Runenorakel - Wizzod-Wurf und Wizzod-Lesung
 
 
Wer der magischen Tradition, dem Zauberbrauchtum aus keltisch-germanischem Herkommen, Vertrauen und Neigung entgegenbringen mag, wird sich des Runenwizzods (Runengesetz / Runenorakel) bedienen, schöpfen doch die ODING-Runen und das keltische Ogom-Alphabet aus gleicher urmystischer Quelle indogermanischen Vermächtnisses. Die Grundbedeutung der Wörter Rune, ebenso raunen, ist geheimnisvolle Weisheit und Rede im Sinne des Murmelns und Besprechens, wie es bei Zauberhandlungen seit Urzeiten geübt wurde, wenn der gewünschte Galster wirksam ins Werk gesetzt werden sollte.
 
Sichere Kunde über die Verfahrensweise der Wizegunga, der Weissagung mit Runenstäbchen, wie sie unsere Vorfahren übten, gibt der Römer Tacitus (55-120 n.0) in seiner „Germania“ (Kap. 10) : „Sie schneiden den Zweig eines frucht­tragenden Baumes ab, zerlegen ihn in Stäbchen, die sie mit unterschiedlichen Zeichen versehen, um sie aufs Geratewohl auf ein weißes Laken zu streuen. Dann hebt der Gemeindepriester bei öffentlichen Beratungen oder das Familien­oberhaupt, wenn es um Privatangelegenheiten geht, mit dem Blick zum Himmel dreimal je ein Stäbchen auf und deutet sie nach den vorher eingeritzten Zeichen.“
 
Wer zur Galsterara (Zauberin) und Wala (Sibylle) oder zum Paravari (Runen­priester) und Wizzago (Prophet) werden möchte, benötigt also 24 gleich große Steine, Holzstäbchen oder -klötzchen, z.B. von Buche, Eiche, Eibe, Tanne, Esche, auf welche eigenhändig die Runenzeichen einzuritzen und zu röten sind. Ich selbst habe mir von einem Eichenstück 24 rechteckige Stäbchen von Handspannen­länge schneiden lassen, darauf mit einem elektrischen Brennkolben die Zeichen eingetieft und schließlich gefärbt. Was die weiteren Voraussetzungen, die Orakelkriterien für eine erfolgreiche Weissagung anbelangt, so können keine allgemeinverbindlichen Richtlinien aufgestellt werden. Die diesbezügliche Fähigkeit ist im zähen Selbststudium aufzubauen. Jeder Fortgeschrittene trägt als seinen ureigensten empirischen Wissensschatz, welcher Umstand ihm im besonderen hilfreich zu sein vermag (innere Sammlung, Abschaltung von Fremdeinflüssen, Ruhe, Gebetsvorbereitung, vorausgegangenes Fasten, günstigster Wochentag oder Mondstand, geeignetste Himmelsrichtung u.a.m.).
 
Der um Offenbarung Bittende wendet den Blick von irdischen Dingen hinweg, um in Verbindung mit jenen vertrauten und zugleich heilige Schauer erweckenden jenseitigen Mächten zu gelangen. Dieses „Jenseits“ der nicht fernabliegenden, von uns räumlich getrennten Fremdheit, vielmehr die benachbarte, unmittelbar erreichbare, lediglich andersgeartete Seinsebene gilt es in einem Willensakt der Bewusstseinserweiterung erreichbar zu machen. Das Runenstabbündel wird mit beiden Händen umschlossen und fällt bei gleichzeitigem Öffnen der Hände zu den unterschiedlichsten Formen auseinander. In den Zeitraum des Runen­umfassens, des Runenwurfes sowie des Runenlesens stelle man lautlos, aber eindringlich an die Schicksalsmächte jene Frage, deren Beantwortung gewünscht wird. Die Form der Fragestellung sollte klar und knapp sein, um die Möglichkeit einer Orakelantwort in drei Begriffen nicht zu überfordern.
 
Gleich einem Blütenkelch mag sich unser Innerstes nun öffnen, um erfüllt zu werden von einem allerhellenden, erkenntnisschweren Lichttropfen, welcher in die feinsten Veräderungen unseres Ich hineinrieselt, um uns einen Augenblick fremd- und doch urselbstbestimmt handeln zu lassen, indem wir nacheinander die drei Weissagestäbe aus dem Runenwurf herausziehen. Die Augen sind dabei entweder geschlossen oder zum unscharf-verschwommenen Blick geöffnet.
 
Nun, da wir die rechten Runen zu erfassen bestrebt sind, sollten wir uns die mystische Situation, die geheimnisvolle Lage vergegenwärtigen, in der sich Wodan befand – am Weltenbaum hängend -, als er nach eddischer Gottes­weisheitslehre die rechten Runen fand (siehe „Das 24. Sinnbild - Überfluss“, Gedicht).
 
Wer die Sprache dieser Zeilen hört, begreift wohl die Erregtheit und Erschütte­rung, aus denen bei Gott und Mensch seelisch-geistige Leistungen geboren werden. Den Versuch einer visionären Identifikation, einer innergesichtigen Gleichsetzung mit dem Geistgott im Weltenbaum sollten wir wagen. Unsere Wirbelsäule wird zum Stamm des kosmischen Baumes, der sich in die Him­melshöhe hinaufstreckt; um unser Haupt kreisen die Gestirne. Die Fingerspitzen gleiten dabei über die Stäbe, bis die Eingebung Sicherheit gewinnt, den richtigen Runenstab erfasst zu haben.
 
Die hohe Drei
 
Die drei Stäbe werden entsprechend der Reihenfolge, in welcher sie aus dem Runenwurf gezogen wurden, zur Deutung aufgereiht, und diese wird sofort im Sinne der ODING-Wizzod-Erklärung vorgenommen. Die Heiligkeit der Drei ergibt sich zwingend aus urheidnischen, religiösen Überlieferungen. Dies erweist die Sichtung bronzezeitlichen, nordeuropäischen Felsbildgutes, der Hällristningar-Ikonographie, aber auch schon der abstrakten Steingravuren des irischen Ganggrabes von New Grange (2500 v.0), bei der sich der Drilling bzw. die Triskele als besonders gelungenes Begriffszeichen für die einer ursächlichen Dreiheit innewohnenden Triebkraft (Dynamik) heraushebt.
 
Singt doch der Runenreigen selbst das Loblied auf die heilige Drei als Gleichnis für den innersten Wesenskern der gesamten religiösen Erkenntnislehre. 24 Runen erzeigen die Quersumme 6, das Allsymbol. Die Addition von 1 bis 24 ergibt 300, also ebenso 3. Die sich hier abzeichnende Dreiheit (Trimurti, Trinität) der Erscheinungsweise des Göttlichen begegnet uns wieder in der Metapher des erdmütterlichen Urgeistes Urd / Wurd / Wyrd (Vergangenheit bzw. Schicksal), die sich durch Hinzunahme der Werdandi (Gegenwart bzw. Werdende) sowie der Skuld (Zukunft bzw. Schuld) zur Triade der Schicksalsmütter (Moiren, Parzen, Nornen) ergänzt. Ein solches zeitsymbolisches Verständnis - der Dreigliederung eines jeden Geschehens - sollte uns bei Lesung der Runenorakelstäbe bewusst sein.