Tür 2
 
Zahlensymbolik und Runenmythologie
 
1 a: Alles ist Zahl
 
Um den Runensinn zu verstehen, ist es nötig, sich in das altreligiöse Zah­lendenken sowie die philosophisch-theosophischen Strö­mungen und allgemeinen Vorstellungen jener Zeit hineinzuversetzen, in der die Runen entstanden sein müssen. Es ist die Epoche des neupythagoreisch und iranisch beeinflussten Frühgnosti­zismus, der seine Motive teils aus altgriechischer Philo­sophie und dem hellenistischen Mysterienwesen zusammentrug. Die Vertreter der Gnosis (Erkenntnis religiösen Heilswissens) führten diese auf eine geheime Urweisheit zurück, die allen Religionen zugrunde liegen solle und von den großen Lehrern der Mensch­heit in jedem Volke und zu jeder Zeit anders - doch oft mit weitgehend übereinstim­mendem Inhalt - verkündet werde.
 
Die Quelle, die am nachdrücklichsten das zahlenbestimmte Denken der Griechen vor Augen führt, ist das 13. und 14. Buch der „Metaphysik“ des Aristoteles, worin er sich mit dem Zahlenwissen der Pythagoreer und Pla­toniker auseinandersetzte. Es ist zu erfahren, dass in der Lehre des späten Platon (427-347 v.0) die Ideen selbst als Zahlen verstanden wurden. Pythagoras (550-500 v.0) muss schon vom vorweltlichen Sein der Zahlen im göttlichen Denken überzeugt gewesen zu sein. Zahlen oder Ideen er­schienen als Plan-Glieder Gottes, als Muster- oder Urbilder der Schöpfungs­dinge, also als Werkzeuge der Weltbildung. Sie sollen das Wesen der Welt sein, jedes Besondere darin hat eine besondere Zahl. Nicht anders als die Pythagoreer sah der Theo­loge der platonischen Akademie Xenokrates (?-314 v.0) hinter den Dingen die Zahlen als geistige Wesen­heiten, als göttliche Kräfte, ja selbst als Götter. Noch der Neu­pytha­goreer Niko­mach­us (2. Jh. n.0) erklärte die tiefere Bedeutung der Zahlen von 1 bis 10 als Symbole für Göttinnen und Götter. Die Auffassung des Pythagoreers Philolaos (5.Jh.v.0)  lautete: „Denn die Natur der Zahl ist Kenntnis spendend, führend und lehrend für jeglichen in jeg­lichem Dinge, das ihm zweifelhaft oder unbekannt ist. Denn nichts von den Dingen wäre irgend­wem klar, weder in ihrem Verhältnis zu sich noch zu ande­ren, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen.“ (Eisler, „Handwörter­buch der philosop­hie“, Berlin 1913) In einem Hymnus an Apollon auf dem griech. Zauberpapyrus II,325 des 3./4. Jh. heißt es: „Ich rufe deinen Namen, der von gleichem Zahlwert ist wie die Moiren [die 3 Schicksalsgöttinnen] selbst..“ Ebenso im gleich alten sog. „Großen Pari­ser Zauberpapyros IV,455“: „Deinen Namen rufe ich Horos, der an Zahl gleich ist dem der Moi­ren.“ So wichtig erschien die Zahl des Namens zur Erkenntnis des We­sens. Hinter all der Zah­lenmystik, mit der man Ideen, Dinge und Gottheiten belegte, steckte aber letztlich eine vernünftige Ah­nung dessen, was uns heute so geläufig ist, nämlich dass die Natur durch Ge­setze, also durch Zah­len, beweisbar wird, ja, dass oft allein die Mathematik hilft, Erscheinungen zu begreifen. So gesehen, ist die Zahl auch in der modernen Naturwissenschaft noch „das Wesen der Dinge“. Der pytha­go­reische Lehr­satz des Philolaos: „Wer die Zahl gefunden hat, kennt das Wesen­tliche“, wird sich auch für uns bei der Runen­ent­schlüs­­selung aufs trefflichste be­währen.
 
Schon die Pythagoreer dachten sich die 24 Buchstaben des griech. Alphabets als metaphysisch begründet. Über sie ist im Schlußkapitel der „Meta­phy­sik“ des Aristoteles (384-322 v.0) zu erfahren: „Was sie an Übereinstim­mung zu zei­gen ha­t­ten an den Zahlen und Tonhöhen mit den Geschehnissen am Himmel und mit seinen Teilen und mit der ganzen Weltordnung, das sammelten sie und verglich­en es.“ Demnach stellten sie Ziffern und Elementargrammatik in absolute, schon nicht mehr steige­rungsfähige kosmische Zusammenhänge. Und die Begründer der griech. Astro­logie Nechepso und Petosiris im 2.Jh. v.0 verbanden be­reits die 12 Tier­kreiszeichen mit je 2 Buchstaben. In einem griech. „Zau­berpa­pyrus“ (P. XXXIX) des 4. Jh. heißt es: „Ich beschwöre dich bei den 12 Himmelszeichen und bei den 24 Kosmos­zeichen...“
 
Der Schöpfer der ggerm. Buchstabenreihung muss ein wissbegieriger, wei­ser, mathematisch befähigter Mensch gewe­sen sein, auf der Erkenntnishöhe seiner Zeit. Das antike Zah­len­­den­ken war ihm ebenso vertraut wie eine Vielfalt indoeuropäischer Mythen­traditi­onen. Den bekanntermaßen druidisch-orphisch-pythagoreischen Glauben an die Unsterb­lichkeit und Wiedergeburt der menschlichen Seele muss er mitgetragen haben. Früh­gnostische Schulen muss er kennengelernt haben. Er wird Lehrern begegnet sein, die aus den heiligen Schrif­ten schöpften: den damals schon ca. 1.000 Jahre alten ario­indischen Veden („Wis­sen“), den Gathas („Gesängen“), dem irani­schen Avesta („Wis­sen“). Er wird Berichte über verborgene Myterienkulte erfahren oder Ein­weihungen er­hal­ten haben. Die Überlegungen der griechi­schen Denker sowie die hellenistisch-synkretistischen Spekulationen können ihm nicht fremd geblieben sein. Er schuf unverkennbar auf dem Grundstock seiner ihm vertrauten gallogermanischen Heimatreligion ein mo­dernes, mit dem letzten Wissens­tand seiner Zeit abgeglich­enes, Ver­ständnis- und Glaubenskonzept. Die größte Nähe zeigt seine Runenreligion zur iranisch-zoro­astrischen Gedanken­welt. Ob dies verursacht ist durch arische Urverwandt­schaft, unmittelbar aufgegriffene Lehren oder durch Berührungen mit iran. ge­färbten früh­gnostischen Elementen, bleibt offen. Solcherart Zusammenfluss spiegelt sich in spätantiken herme­tischen Zauber­papyri, noch den alchimisti­schen Mittelalterschriften bis in die späth­eidnisch-skandinavische „Völuspa“ bzw. „Edda“ hinein. Die pytha­goreisch-platoni­schen Impulse reichten aus der Antike übers Mittelalter bis hinauf in die Re­naissance.
 
Schließ­lich sprechen sie aus dem mysti­schen Wissen und der Zahlenmagie des 1486 zu Köln geborenen Agrippa von Nettes­­heim, dessen Werk „Philosophia occulta“ (Erstdruck 1530, Antwerpen) sowohl als Summe seiner eigenen okkultischen Studien wie auch als Zusam­menfassung der gesamten mittel­alterli­chen Magie anzusehen ist. Agrippa sagt im 3. Buch: „Mathe­matische Wissenschaf­ten sind, als mit Magie verwandt, für diese so unentbehrlich, dass, wer ohne solche zu besit­zen, Magie treiben zu können glaubt, sich auf ganz falschem Wege befindet, sich umsonst ab­müht und nie zu einem Ziel gelangt.“ G. Galilei (1642-1591), ein Begründer der mo­dernen Naturwissenschaft, war überzeugt: „Das Buch der Natur ist in mathema­ti­sch­en Lettern geschrieben.“ Noch der Dichterphilosoph Friedrich v. Hardenberg („No­va­lis“ 1772-1801) meinte: „Es ist wahrschein­lich, dass in der Natur eine wunderbare Myst­ik der Zahlen am Werke ist, und ebenso auch in der Geschichte.“ Zu dieser Spekulation gehört die Anschauung, dass ebenso wie die Zahl auch das Wort beim Auf­bau der Welt tätig sei. Das Wort in seinem me­ta­phy­sischen Sinn ist gleichfalls ein Verbindungsglied zwischen Seeli­schem und Körper­li­chem und hat wie die Zahl die Funktion, die Seele zur Weltseele hinzu­führen. Agrip­pas Methode, jedem Planeten und jedem Metall eine gewisse Zahl zuzuschreiben, sowie ihre Kräfte und Beziehungen untereinander zu erfassen, ent­spricht völlig der pythagoreischen Weltbe­trach­tung. So ist es möglich, ein ganzes Weltbild in Zahlen und Buch­staben auszu­drück­en ! Der große Mythen- und Seelen­kenner/Psycho­the­rapeut  C.G. Jung (1875-1961) beschäftigte sich ein Leben lang mit der Suche nach Urbildern, sogenannten Archetypen, die sich als Grundprinzipien durch sämtliche Gebiete der Wissen­schaften von Geist und Materie bis in die heutige Zeit hin­durch­ziehen. Spät wandte er sich auch den mathematischen Ideen im Sinne der klassi­sch­en Philo­sophie zu und  erst kurz vor seinem Tod entdeckte er in den Grundbau­ste­i­n­en der Mathematik einen urbild­haften Charakter. Er sah in ihnen Grund­prinzipien, de­ren Qualitäten sich in den Geist­es- und Naturwissenschaften wi­der­spiegeln, er bezeichnete die Zahl als den „bewußt­ge­wordenen Archetypus der Ord­nung” und äuß­erte die Vermutung, dass wir wahr­scheinlich durch eine Unter­such­ung der Zahlen-Arche­­typen weiter in das Gebiet der Einheitswirklichkeit von Psyche und Materie vor­drin­g­en könnten. (Marie-Luise von Franz, „Zahl und Zeit“, Klett-Cotta 1990, Vorwort) Damit legitimiert sich auch eine Beschäftigung mit den Zahlensymbolen aus runisch-religionswissenschaftlicher Sicht. Deshalb muss ein solcher Überblick allen weiteren Erörterungen voran­gestellt werden, ganz im Sinne der alten pythagoreischen und auch der runentheo­re­tischen Weisen: „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge und sie ist der Anfang aller Din­ge !“(Gottfried Martin, Klassische Ontologie der Zahl“, 1956, S.13; Kantstudien, Er­gän­­zungsheft 70)
 
Wer das antike Zahlendenken verstehen möchte, muss wissen: Eigentlich kennt man nur 9 Zahlen, mit denen sämtliche darüber hinausge­henden Werte dargestellt werden können. Die 10 ist nur eine 1 mit einer 0. Jede, auch die größte Zahl, kann durch einfaches Zusammenzählen ihrer einzelnen Ziffern auf eine der Zahlen zwischen 1 und 9 zurückgeführt werden; so wird z.B. aus 1992: 1+9+9+2=21=2+1­=3. Man be­zeich­net diesen einfachen Rechenprozess auch „theosophische Addition“ oder „theo­sophische Reduktion". Die sich ergebende einstellige Wurzel-, oder Kernzahl wird in der Mathematik Quer­summe (QS) genannt. Sie gilt als die den Geheimsinn offen­ba­rende Seele des Ganzen. Doch können auch zweistellige Ziffern ihren festen Platz in der Tabelle mythischer Me­taphern einnehmen. Wer also den theosophischen Wert einer Zahl wissen will, muss arithmetisch alle Ziffern von 1 bis zu dieser Zahl ein­schließ­lich addieren: z.B. 4=1+2+3+4=10=1+0=1, oder 7=1+2+3+4+5+6+7=28=2+8=10=1 Wir erkennen dann, dass nach diesen Operationen 1, 4, 7, 10, 13, 16, 19, 22 „gleich“ 1 sind. Sie gelten als unterschiedliche Kon­zep­tionen der Einheit.
 
1 b: Die Quersummierung (QS)
 
War in alter Zeit die Quersummenziehung überhaupt denkbar ? Wie schrieben die Griechen ihre Zahlen ? Sie verwendeten zwar wie wir ein Dezimalsystem, aber da das Zahlzeichen „0" (Null) unbekannt war, gab es in ihrem System keinen Stellen­wert. Deshalb wurden mehr Zeichen benötigt als nur die neun Zahlenzeichen (plus null), die wir verwenden. Für die Zahlen bis zu unserer 999 brauchte man 27 ver­schiedene Zeichen: neun für die Einer (1-9); neun für die Zehner (10-90); und weitere neun für die Hunderter (100-900). Weil sie also keine Null hatten, konnten sie nicht wie wir das gleiche Zeichen für Zehner und Hunderter verwenden und ihren Wert einfach durch eine Null dahinter oder die Veränderung der Stellung innerhalb der Zahl verändern. Sie benötigten z.B. für 3, 30 und 300 drei verschiedene Zeichen.
 
Die Griechen nutzten ihr gesamtes Alphabet zur Zahlenbezeichnung, und auch die Römer brauchten mehr als 10 Zahlzeichen; den Rechenprozess einer Quersummenziehung, welche eine Verkürzung auf die 10 Grundzahlen vornehmen möchte, halten wir in diesen Systemen für undenkbar. Trotzdem jedoch war sie im Gebrauch und kann durchaus selbst in germ. Bronzezeit schon gehandhabt worden sein. Der röm. Schriftsteller Varro (116-27 v.0) beschrieb die QS als ein Mittel, um größere Zahlen - z.B. im Orakelbrauch - auf ihre beson­deren beweiskräftigen Elemente hinabzu­min­dern, indem Zehner, Hunderter, Tau­sender als Einer gezählt wurden. Man nannte das „regula novenaria“, weil man dabei die je neun Zehner, Hunderter, Tausender in einheitlicher Weise vornahm (Varro, „De lingua latina“ IX,49,886 p. 166). Bereits im 4. Jh. v.0 gebrauchte der griech. Philosoph Speusippos, der die Ideenlehre Platons zu einer Zahlentheorie gestaltete, den Fachausdruck der „Quersumme“. Und der Neu­platoniker Theo­doros von Asine verwendete in erster Hälfte des 4. Jh. n.0 quersum­mieren­des Verringern der Zahlenbuchstaben zu spekulativ-theoretischen Zwecken. Er übte also schon eine Rechenoperation, welche sich erst in unserem Dezimal­sys­tem so sehr viel leichter durchführen lässt. (Franz Dornseiff,Das Alphabet in Mys­tik und Magie, 1925, S.113 ff) Insbesondere die Texte der griech.-ägypt. Zau­berpapyri, von denen die meisten aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrech­nung stammen, führen in Fülle die damals gebräuch­liche Quersummenziehung vor. In der Wiener Albertina befindet sich mit über 40.000 Exemplaren die größte Papy­rus­sam­mlung der Welt. Man konnte also die Worte „umsprin­gen" lassen, so ähnlich wie man noch heute die lateinischen Buchstaben umformen könnte, die einen gän­gigen Zah­lenwert haben: so kann man MIX als „Mix" lesen oder als 1009, LVX als „Lux" oder auch als 65.
 
Wir hielten die Quersummenziehung also zu Unrecht nur innerhalb des heutigen Dezimal­stellensystems für möglich, welches über die Vermittlung der Araber von den Indern über­nommen, in Breite erst ab dem 12. Jh. n.0 zunehmend als Allgemeingut des Abendl­andes genutzt wurde. Es ist fähig, mit Zahlensymbolen von 0 bis 9 auszukommen; 10 ist dabei die Basis- oder Grundzahl - nur deshalb, weil der Mensch 10 Finger besitzt, die er natürlich benutzt, um Dinge, die er auszählt, zu kontrollieren. Solche selbstverständliche Art der Zählweise, über 10 hinaus wieder mit einer höher­en Qualität der 1 zu beginnen, zeigt sich bei vielen Indianer­stämmen in dem Begriff für 11: „Fuß-Eins“. Waren die Finger erschöpft, nahm man die Zehen zu Hilfe. Die Hochschätzung der 10 als Vollkommenheits- und Basiszahl ist der menschlichen Anatomie also zwingend vorgegeben und mithin älter als die Erfindung des indischen Dezimalstellensystems; sie basiert auch in Europa nachweislich auf sehr alter Tradi­tion. Schon in aind.-vedischer Urlehre heißt es verkürzt (Chândogya-Up. 3): „Dieses, fürwahr, sind die fünf einen [makrokosmischen] und die fünf andern [mi­kro­kosmi­schen], welche zehn ausmachen. Durch sie wird diese ganze Welt sichtbar.“ Die 10 wurde von den Pythagoreern in der „tetraktys“, der „Vierheit“, ausgedrückt, da die 4 Grundelemente unserer Welt und die ersten 4 Zahlen die Summe der „heili­gen Zehn­zahl“ ergibt. Und so, wie sie auch von 10 Weltkörpern ausgingen, zeigt das vielleicht geistesverwandte bronzezeitl. Rasiermesser von Hviving (Aarhus/­Däne­mark) neben den beiden großen Strahlenkreisen, die sicher Sonne und Mond darstellen, weitere acht, also insgesamt 10 Himmelskörperdar­stellungen, die um das „Erdenschiff“ her­um gruppiert wurden (vgl. Abb.19). Wie zur Bekräftigung des Befundes führt der ge­schwungene Griff ein Ornament von 10 Gürtellinien. Nach Platos Atlantis­bericht wa­ren es 10 verbündete Könige, die das Reich der nordeuro­päischen Atlanter regier­ten (Krit. 119,120). Das ließe auf eine sakrale urnordische Hoch­schätz­ung der 10-Zahl schließen.
 
1 c: Runenzahlen
 
Die Runen singen hervorgehoben das Loblied der Zahlen 24 und 21, der 6, letztendlich aber der 3. Warum tun sie es, und wie tun sie es ? Das System von 24 Runen besitzt QS 6, und 21 führt über die Theosophische Addition zur 6 (vgl. ZS 6 u. 24). Die 6 wur­de Symbol für das All, weil es 6 Dimensionen gibt: Norden, Süden, Osten, Westen, Raumhöhe (Ze­nit) und Raumtiefe (Nadir). Deshalb spricht der Rigveda (1.67,5 / 1.164,6) vom Ur­vater „Dyauspita, welcher als Hand­werker den Erdboden und die 6 Welträume be­festigt hat“. Und in Folge­richtigkeit der göttlichen Identität von Raum und Zeit heißt es im „Atharva­veda“ („Nrisinhapurvatapaniya-Up.“ 5.1): „Prajapati sprach: 6 Spei­chen hat jener große Kreis Sudarcanam [Sonnendiskus] und hat 6 Flä­chen. Denn 6 ver­schie­dene Zeiten hat das Jahr.“ Das altind. Rundjahr wurde mit 360, also 6x60 Ta­gen ge­rechnet. Ganz ähnliche Vorstellungen pflegten die Altgermanen. Die bronze­zeit­liche prächtige goldene Sonnenscheibe aus Glüsing/Norder­dith­mar­sch­­en führt die 6 Spei­chen des Sonnenrades vor. Rund herum sind 26 Sonnen­kreis­chen geordnet, zu­sammen mit dem Zentralkreis der Radnabe, sind es 27 (3X9).
 
Die 6 galt in der An­tike und besonders im neuplatonischen Weltsystem als vollkommene Zahl (griech. arithmos teleios, lat. summus perfectus), weil ihre Summe ihren aliquoten (ohne Rest teilbaren) Teilen entspricht bzw. ihre Teiler­sum­men gleich sind (einschließlich 1, ausschließlich der Zahl selbst). Sie bildet die Summe der ganzen Zahlen durch die sie selbst geteilt werden kann. Diese De­finition geht mindestens zurück auf den griech. Mathematiker Euklid, der im 4. Jh. v.0 die „Elemente“, sein berühmtes Lehrbuch der Geometrie, verfasste. 6 hat die Teiler (Divisoren) 1, 2, 3; die Summe von 1+2+3 und das Produkt von 1x2x3 ergeben wieder 6, wodurch diese Zahl sowohl Summe wie auch Produkt ihrer Teile ist. (Julius Stenzel,Zahl und Ge­stalt bei Platon und Aristoteles, Darmstadt, 1959, S.39) Solche Zahlen besitzen ge­wis­sermaßen einen Inhalt, der ihrem äußeren größten Wert entspricht; bei ihnen deckt sich Äußeres und Inner­es. Der konkreteste Grund aber für die Wahl der 6 als Hauptrunenzahl dürfte darin begrün­det liegen, dass der Schöpfer mit seinem  Gesamt­zeichenkorpus den göttlichen Welt-Zeit-Raum ausdrücken wollte, das vermochte ihm allein ein Kreis von 24 Zeichen mit QS 6 zu ermöglichen: Der arioiran. Zoroastrismus bzw. das jungavestisch-zoroastrische Buch „Bundeheš“, also auch die den Gnosti­zis­mus prägenden pers. Ma­gier, predigten eine sechstausendjährige Weltzeit -, und das gleich­zeitig von den griech. Weisen angenommene Weltmodell war der Dodekaeder, ein Kugelgebilde aus 12 Pentagonen, also von 60 Ecken. Auch der Buddhismus sprach vom sechsfachen sinnlichen Himmelreich. Noch der röm.-kathol. Kirchenschriftsteller und Ge­genpapst Hippolytus meinte, dass die Erde 5500 v. Chr. erschaffen wurde, insgesamt nur 6.000 Jahre alt würde; so lehrte er seinen Anhängern: „500 Jahre werden nach der Geburt Christi noch vergehen, dann wird das Ende gekommen sein.“
 
Da die 6 ersichtlich aus 3 Kernteilen zusammengefügt ist, verweist sie unüberhörbar auf die Dreiheit, dem noch komprimierteren Gottesbegriff. Erst die Dreiheit: Gesetztes, Entge­gen­­gesetztes, Ver­mittlung (Thesis, Antithesis, Synthesis) ergibt ein voll­kommenes ge­dankliches Ganzes. An­fang, Mitte und Ende gehen von der Gottheit aus; so ord­nete die Mystik vieler Völker ihr die 3-Zahl zu und entwickelte Tria­den, Dreifaltig­kei­ten, wie schon im vedischen Altertum. Agni (Feuer), Vayu (Wind/Lebenshauch), Sur­ya (Sonne), später: Brahma, Vishnu, Shiva. Nach altnordisch-eddi­schem Zeugnis (Gylf. 5). Wo­dan, Wili, We („Seelenwallung, Wille, Weihtum“). Den Pyt­ha­­goreern galt die 3 als „Zahl des Alls“.
 
Wie singt die ggerm. Runenreihe ihren zahlenmythologi­schen Lobgesang ? 24 Buchstaben mussten es sein, denn diese Anzahl führt zur QS 6. Aus 6 Urbuchstaben, Vokalen:  , , , , (o, e, y, i, a, u) sowie aus 3x6=18 Konsonanten besteht das Sys­tem. Strenggenommen stehen 2 Buchstaben zwischen Vokalen und Konso­nan­ten, sogenannte Halbvokale und (j, w). Rechnet man sie zu den Vo­kalen, hätte man 8 Grund­laute, was einer verstärkten Huldigung der noch zu er­klärenden Gottes­zahl 8 des Tiu () gleichkäme, welche 3 mal im runischen All-(Raumzeit)-Kreis (3x8=24) west und wirbelt.
 
1 d: Platonisches Hochzeits- oder Geburtsdreieck
 
 
Abb. 1 Platonische Geburtsdreiecke der Runenkosmologie
 
Der Runenschöpfer ordnete sein System in Übereinstimmung mit der Betrachtungsweise, die uns Plutarch über das platonische „Ge­burts­drei­eck“ vermittelt („De Iside et Osi­ride“, Kap. 56). Eigentlich war es das „Dreieck des Pythagoras“, mit den Zahlen­grö­ßen 3-4-5, dem der Satz des Pythagoras a²+b²=­c² zugrunde liegt. (Abb. 1) Das Produkt dieser pythagoreischen Zahlen (3x4x5=­60) be­trägt in QS-Bildung wie­der 6. Bei Plutarch entspricht die Weltenmutter Isis dem Stoff und der 4 (Tetras), der Vater Osiris steht mit der 3 (Trias) für das geistige, befruch­tende Urbild, also die Idee. Im Dreieck, nach „rechtwinkliger“ Vermählung, wächst auf schräger Ver­bindungslinie, der Hoch­zeits-5, das Produkt von Erd­mutter und Geistvater: der Urmensch (), der Logos oder „Große Mensch“ der Gnostiker, also das Schöpfungs-All  (2 Spitzen oben !), getreu der Einsicht von der Identität des Makro- und Mikrokosmos. Die Summe die­ser kosmogonischen Dreiecks-Zahlenfolge (3-4-5) ist 12, die Ziffer der runischen Weltbaum-Eibe (). Die Aufsummierung der 12 wiederum ergibt 78, das Zahlenpaar 7 und 8, also runische Erdmutter () mit Himmelsvater (). Die Addition des Weltelternpaares erbringt über den Wert 15 wieder QS 6. Die Araber trugen diese hellenistische Zahlensymbolik in den nordafrikanischen Raum, deshalb gelten bei den Stämmen des Sudan die Zahlen 3 für Mann, 4 für Frau und 5 für Hochzeit. Bei den nigeri­anischen Ekoi symbolisiert das  -Zeichen „Liebe“ (2-Spitzen-oben !). (Walter Burkert, „Weisheit und Wissenschaft“, 1962, S. 444)
 
Die vorliegende Runensinn-Reihenfolge ist also nichts weniger als logisch, eine andere müsste unrichtig erscheinen. Ist die 5 als Menschen­zahl vorgegeben, die 4 mit weiblicher, die 3 mit männlicher Sinngebung belegt (worin antike Übereinstimmung bestand) und die 1 durch die Mythologie als urstofflich-erdmütterlicher Anfang bestimmt, kann eine Ele­menten-Folge und Genesis nicht anders beschrieben werden. Im Runenbeginn liegen aber zwei konvergierende Geburts­drei­ecke ver­borgen, denn Erde und Wasser ( + ) stehen zueinander wie Mutter und Tochter, und Luft und Feuer ( + ) ver­halten sich zueinander wie Vater und Sohn. In der mythologischen Deutung geht die Mutter in der Tochter auf, geradeso wie der Sohn im Vater. Das Grundschema ist alt und Allgemeingut vieler Kulte, gewisse Ab­weichungen einge­schlossen. In Platons „Timaios“ (50 C f) heißt es: „Wir müssen uns drei Gattungen denken, das Werdende, das, worin es wird, und das, dem ähnlich werdend das Werdende entsteht. Und es ziemt sich wohl, das Aufnehmende der Mut­ter, das von dem es herrührt, dem Vater,  die dazwischen liegende Natur aber dem Geborenen zu vergleichen.“  Sein Schüler Xenokrates (396-314 v.0) lehrte: 1. männlicher Weltgeist, 2. die den Geist in sich aufnehmende weib­liche Weltseele und 3. ihren Sohn, den Kosmos. Die drei Prinzipien wären demnach: Weltgeist, Welt­seele, Weltkörper. Auch der der Stoa nahestehende Philon v. Alexan­drien (25-50 n.0) teilte ein: 1. der „Vater des Geschaffenen“, 2. Mutter ist die „Weis­heit des Schöp­fers“, mit der Gott sich vereinte, 3. der „sinnlich wahrnehmbare Sohn, unsere Welt“, der Kosmos, der auf geistiger Ebene gleichzeitig der die Welt durch­dringende und zusammenhaltende Logos ist. Der bedeutende Gnostiker und Magier Simon Magus von Getthon aus Samaria (Mitte 1. Jh.), der die hochmütige jüdische Eingottlehre bekämpfte, definierte die drei Prinzipien so: Männlicher Geist (Va­tergott) und weiblicher Gedanken (Muttergottheit) und der zwischen ihnen ge­zeugte mann-weib­liche Weltschöpfer bzw. das Weltall.
 
1 e: - Der Sechsstern
 
In der hermetisch-mystischen Tradition erscheint der Sechsstern, der aus zwei ineinander geschobenen Dreiecken besteht. Im Altindischen bedeutet dies die Vereinigung des schöpferischen Vischnu-Dreiecks mit dem zerstörerischen Schiva-Dreieck, demnach die Werdung und Vergehung der materiellen Welt. Das nach oben strebende und nach unten weisende, also die Polarität Geist-Materie bzw. Gott-Chaos.
 
1 f: Vergeistigter Gottesdienst
 
Von den Göttern unserer Vorfahren schreibt Cornelius Tacitus im 9. Kap. seiner Germania: „Die Götter in vier Wände einzuschließen oder in Menschengestalt darzustellen, entspricht nicht den germanischen Anschauungen von der Hoheit der Himmli­sch­en. Wäl­­der und Haine sind ihre Heiligtümer, und mit göttlichen Namen bele­gen sie jenes Geheimnis, das sie in gläubiger Verehrung ahnen.“ Ähnliches darf nach dem Bericht Diodoros von Sizilien („Bibliothkê istorikê“ XXII) von den älteren Galliern vermutet wer­den. Nur so erklärt sich die Reaktion des Keltenfürsten Brennos (3. Jh. v. 0) , als er die Statue des Apollon im Allerheiligsten zu Delphi erblickte: „Brennos brach in Lachen aus ange­sichts der Tatsache, dass man den Göttern menschliche Gestalten zugemutet und sie aus Holz und Stein hergestellt hatte.“ Für ihn war die künstler­isch-gegenständ­li­che Fixierung eines Gottes unbegreiflich und somit lächerlich. Im Norden gab es dies­bezüglich keine feste Regel, doch offen­bar eine Tradition der Ablehnung Götter ins Bild ­zu bannen. Die Mah­nung des Dich­ters Friedrich von Bodenstedt (1819-1892), die sich an die Verehrer ge­­gen­ständlicher Gottesfiguren richtet, wäre wohl schon im urgermanisch-urkelti­sch­en Bezirk gut verstanden worden: „Der Weise nennt mit Ehrfurcht Gottes Na­men, / Er weiß, dass er das Wesen nicht erfasst. / Der Tor malt Gottes Bild, wie es zum Rah­men / Des engen Torenhirnes passt.“ Götter­symbolismen, also bedeut­same, mehr oder minder geheime Umschreibungen, schei­nen bevorzugt worden zu sein. Ein einschränkendes Beispiel ist der Silberkesselvon Gundestrup, ein keltischer Kultkessel aus der La-Tène-Zeit des 5. Jhs. v. 0, der im nordjütländischen Moor gefunden wurde. Er zeigt Götter und ihre Mythen-Symbole. Man wird also annehmen müssen, dass im keltisch-germanischen Denken diesbezüglich keine ganz strenge und zu allen Zeiten gleiche dogmatische Auffassung bei allen Kultgruppen geherrscht haben kann. Wir werden die Anschau­ungen der nordischen Weisen erfahren, der Dru­iden und der runenmeisterlichen Eri­lar, der ru­nen­-galster­lichen Parawari und Haru­gari, in wel­che zahlensym­boli­sche Ge­wan­dungen sie die immaterielle „Hoheit der Himmlischen“ einkleideten, wie sie auf dem Wege mat­he­matischer Prozesse die Gottesmächte erfahrbar zu machen ver­­­suchten und über abstrakte Begrifflichkeiten ihren vergeistigten Got­tes­dienst voll­zogen. Die Spu­ren der Gottheit in den Zahlengefügen der Er­schei­nungs­welt zu erkennen und im nachzeich­nenden Symbo­lis­mus begrifflich zu ma­ch­en, muss ein wesentliches Weih­tum des hyperboreischen Gottesdienstes ge­we­sen sein.