„Wassermann“
Der „Wassermann“ wird zumeist als stehender Jüngling verbildlicht, der ein Wassergefäß mit einer oder beiden Händen ausschüttet. Eine größere Anzahl antiker Münzen zeigt ihn, das Gefäß über die Schulter in ein zweites Gefäß eingießend. Mit eben diesen beiden Krügen bildet ihn der „Tierkreis“ von Dendera ab. Die beiden astrologischen Flüsse, die vom Orion und vom „Wassermann“ ausgehen, dachte man sich mitunter vereinigt. Als liegender Flussgott ist „Wassermann“ auf dem „Tierkreis“ von Palmyra zu sehen. Nicht allein der astrologische Dendera-Kreis zeigt den „Wassermann“ mann-weiblich -, dort mit hängenden Brüsten als Nil-Gott, mit ausströmenden Libationsvasen. Mitunter fehlt auf den Darstellungen die menschliche Gestalt und ein einfacher überlaufender Krug genügt als Kenntlichmachung. Der Ursprung des Topos „Wassermann“ könnte aus der babylonischen Göttin Gula erwachsen sein, aber auch männliche Wassergottheiten finden sich auf den babylonischen Grenzsteinen. Eine griech. Sternsage bezog sich auf den wegen seiner Schönheit von Zeus entführten Ganymedes, den er zu seinem Mundschenk machte. Auch die Hebe („Jugend“), „die Göttin mit den Rosenwangen“, Mundschenkin der Götter, ist im Zusammenhang mit Sternbild „Wassermann“ in Erwägung gezogen worden. Der „Wassermann“ wurde in spätägyptischen Quellen direkt „das Wasser“ genannt. So musste der Runenschöpfer keine Bedenken tragen, seine Wasser-Rune (lagu) ins Feld des „Wassermanns“ einzutragen. Freilich ging es ihm um den erweiterten Sinn von Wasser als dem nährenden, reinigenden, spülenden, heilen, Leben und Gesundheit erhaltenden Element. Er nahm in den dazugehörenden höheren Verständniskomplex die Heilpflanze (lauka = Lauch) mit hinein und - wie zu erschließen ist - auch die „Himmelspflanze“ Mond, die ja ebenso als das Heilwasserreservoire verstanden werden konnte. Die Soma-Pflanze bescherte mit ihrem ausgepressten Saft den Rauschtrank für die Götter und bei Opferhandlungen das Ritualgetränk, wie es im ario-indischen Rigveda beschrieben wird. Soma ist ebenfalls der Mondgott und die Mond-Schale am Himmel. Der Mond ist der Becher, aus dem die Götter den Soma trinken. Bei Vollmond ist er gefüllt, bei Neumond geleert. Von Vollmond zu Neumond trinken die Götter jeden Tag einen gleich großen Schluck. Von Neumond zu Vollmond füllt sich der Becher dann wieder von selbst. Für die Altperser galt Gleiches unter der Namensvariante Haoma / Hauma. Der Rauschtrankkult, in der von der Runenlehre mitgeprägten Wodan-Religion, erwuchs ersichtlich aus altarischen Traditionen. Die Edda nennt den göttlichen Weisheits-Rauschtrank Kvasir oder Skaldenmet bzw. Odrörir („Geist-Seele-Anregender“). Weil der Runenschöpfer ein ganzheitliches kosmologisches System schaffen wollte, musste er dem astrologisch vorgegebenen Wasser-Mond-Komplex den Sonne-Feuer-Komplex vorausgehen lassen -, dies erforderte die Zahlen-Mystik der ebenfalls Rechnung getragen werden sollte. Geist-Feuer ist zahlenmythologisch mit der Ziffer 3 vor Materie-Wasser mit der 4 einzugliedern. In Gestalt seiner Ing-Rune wurde an dritter ODING-Stelle die Feuer- und junge Sonnen-Rune in den „Wassermann“ gegeben, als astronomisch korrekte Platzierung zur Jahresphase der ersten Sichtbarwerdung der neujährlichen Sonnenbewegung um Mitte Januar.
„Fische“
Die Darstellung der „Fische“ geschieht immer, indem der nördliche mit dem südlichen Fisch mittels eines Bandes verbunden ist. Der Namen des letzten Tierkreiszeichens heißt schon im Babylonischen „Fisch“. Im Indischen und etlichen weiteren astrologischen Kulturen kennt man nur einen „Fisch“. Dass der nördliche „Fisch“ im Orient sehr früh als schwalbenköpfig also als „Schwalbenfisch“ bezeichnet wurde, könnte aus der Tradition der aus einem Ei geborenen Dea Syria herrühren, welcher Schwalben und Fische als heilig galten. Schwalbe und Taube galten im Kult der Ischtar heilig. Beim Versdicher Publius Ovidus (43 v.0 – 17 n.0) stürzt sich Dione (mit Venus gleichgesetzte Mutter der Aphrodite), zusammen mit ihrem Sohn Cupido (lat. „Begierde“), auf der Flucht vor Typhon in die Flut des Euphrat. Fische retten sie und werden zum Dank an den Himmel versetzt. Wie verbreitet die Legende war, ersieht man daraus, dass auch bei Manilios die Cytherea (griech. Liebesgöttin Aphrodite) sich auf der Flucht vor dem Verfolger unmittelbar in einen Fisch verwandelt. Das Sternbild der mittels Band verbundenen „Fische“ trug also unübersehbare Beziehungen zur Göttin der Liebe und der sinnlichen Begierde. Amor, Cupido oder Eros galt als Sohn der Aphrodite/Venus, er ist der Gott und die Personifikation der erotischen Begierde und Liebe bzw. des Sichverliebens. Ersichtlich ist mithin, dass die „Fische“ unmittelbare Assoziation zur Liebe, menschlichen Paarung und zur Ehe hervorrufen können. Der Runenschöpfer gab in diese frühjährliche Wachstumsphase der Fruchtbarkeitsriten die paarige Mannus-Rune hinein, die als hieroglyphisches Bildkürzel die Doppelwesenheit des Menschentums vor Augen führt, denn unter Mannus/Manu (ahd. menisco) verstand man im alt-echten Sprachverständnis nicht den Mann, vielmehr den männlichen Menschen, neben dem es den weiblichen Menschen als die mhd. „Männin“ gab. Es ist die 5. ODING-Rune; die 5 gilt als Zahlensymbol für den Menschen, für Liebe und Ehe.
Aus dem Impuls des kosmogonisches Eros, wie er aus der frühjährlichen „Fische“-Station der Sonne herausgelesen werden könnte, ergibt sich den indo-arischen Ur-Mythen zufolge, die Entstehung von Mannus, dem androgynen Urmenschen, sowohl die Teilung des Urmenschen in das die Menschengeschlechter erzeugende fortpflanzungsfähige Paar vom menschlichen Mann und seiner Frau, sowie die Genesis der Erzeugung aller tierischen Männchen und Weibchen. Nach vedischer Entstehungslegende ist es der in die Mann-Frau-Gliederung zersprunge Urmensch der die völlige Abstufung der Wesen selbst hervorbringt, indem das Ur-Menschenweibchen vor dem ständig-brünstigen Ur-Mann fliehend, sich in immer neue Masken und Rollen hineindenkt und so die Geschöpfe schafft. Das Ur-Weib wird zur Stute, doch der Ur-Mann erkennt sie und wird zum Hengst, wodurch die Pferde erzeugt werden. Das Ur-Weib wird zur Kuh, doch der Ur-Mann wird zum Bullen, wodurch das Rindvieh seinen Fortbestand gewinnt. Das Weib wir zur Ziege, Er zum Bock, Sie verkörpert sich hinab bis zum Ameisen-Weibchen und der Mann bleibt ihr in seiner nimmersatten Begehrlichkeit immer auf den Fersen –, so werden alle paarigen Wesen der Tierwelt des Ur-Menschen Kinder. Der Runenschöpfer hatte diesbezüglich keine Wahl, er musste als Folge-Rune nach dem Mannus-Zeichen die Hieroglyphe der Tiere einsetzen, das ehu-Pferde-Symbol , weil das Ross im erwähnten Mythus an erster Stelle steht, weil es als das edelste der Tiere und als Vertrauter der Götter galt. C. Tacitus schreibt in der „Germania“, Kap. 10 über den Orakelbrach der Germanen: „Auch ist … hier bekannt … es auch mit Vorahnungen und Weissagungen der Pferde zu versuchen. Sie werden auf öffentliche Kosten in den Waldtriften und Hainen gehalten, sind glänzend weiß und von keiner irdischen Arbeit berührt. Diese werden vor den heiligen Wagen gespannt, und der Priester und der König - oder das Haupt der Gemeinde - begleiten ihn und geben auf ihr Wiehern und Schnauben Acht. Und tatsächlich wird keinem Wahrzeichen größere Glaubwürdigkeit beigemessen, nicht nur bei dem einfachen Volk, sondern auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; denn sich betrachten sie als Diener der Götter, jene als deren Vertraute.“
Die vorliegende Abhandlung gehört in die Reihe meiner langjährigen mehrperspektivischen Nachweisführung, um die Klärung des Strukturprinzips der Ur-Runenreihe ODiNG-FUÞARK. Die Zielrichtung der Arbeit war zunächst eine Verständnisfindung, mittlerweile die Untermauerung meiner These, dass die germanische Buchstabenordnung aus keinem der sich anbietenden „Vorläufer-Schriftsystemen“ - wie alpine, etruskische oder phönizische - als abgeleitet angesehen werden kann. Und zwar deshalb nicht, weil es sich bei den Runen schöpfungs-momentlich, um keine Buchstabenordnung handelt, bei der es primär um die Prägung eines Schreibmediums ging, sondern, um die Zusammenstellung eines sakral-kalendarischen Hieroglyphen-Kanons, also auch um die Lehrkonzeption des eigenartigen germanischen kosmologisch-theosophischen Weltverständnisses. Bei solchem konzeptionellen Grundansatz war auf die Berücksichtigung astronomischer und astrologischer Rücksichtnahmen nicht zu verzichten, auf die ich in vorliegender Untersuchung einging. Die linksläufige Reihenfolge der Runen - beginnend mit O-D-Ing - bestimmte ihr Schöpfer als Symbolzeichensystem, wofür er sich aus dem ihm bekannt gewordenen Fundus der Sinnbild- und Buchstaben-Zeichen bediente. Den alten nordischen Sinnbildzeichen hat er sicher keine neuen Inhalte geben wollen, aber den von ihm verwendeten Buchstaben - woher auch immer stammend - unterlegte er seine spezifische kalendarische Sinngebung. Das der Runenerfinder Anregungen aus dem keltisch-alpinen Raum empfing, scheint mir naheliegend. Er nutzte ihre Formen als Hüllen für seine zu transportierenden Inhalte, wobei er nur solche „Übernahmen“ akzeptieren konnte, in deren linearen Formen er seine, mit dem Runensinn übereinstimmenden Bildkürzel hineinprojizieren konnte, denn das schriftmagische Bedürfnis besteht darin, dass Zeichen-Sinn, Zeichen-Bild und Zeichen-Zahl harmonisch - also sich gegenseitig stützend und ergänzend - zusammenklingen. Falls der Lautwert einer Rune mit demjenigen eines vorrunischen Buchstabenzeichens übereinstimmen sollte, wäre das eine reine Zufälligkeit, denn die Lautungen der germanischen Idiome können schwerlich identisch sein mit altiberischen, phönizischen oder gallo-alpinen. Meine Beweisführung ist quellenorientiert, mithin fundiert, die Runen sind aus keinen vorhergegangenen Buchstabenreihen entwickelt worden, sie stellen einen Sinnzeichen- und keinen Lautzeichenverband dar. Der Umstand, dass sie, neben ihrem sakralkalendarischen Hauptzweck, auch eine Schrifterfindungsdimension beinhalten, beweisen die ganzheitliche Schau und die Genialität ihres Schöpfers.
Literatur:
Heinrich Wilhelm Roscher, „Lexikon der griechischen und römischen Mythologie“, 1924-37
Franz Johann Boll, „Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der Neuzeit“, 1981 - „Sternglaube und Sterndeutung - Die Geschichte und das Wesen der Astrologie“, 1918
Wilhelm Karl Otto Gundel, „Sterne und Sternbilder im Glauben des Altertums und der Neuzeit“, 1922 - „Dekane und Dekansternbilder - Ein Beitrag zur Geschichte der Sternbilder der Kulturvölker“, 1969