In „Weißt Du zu ritzen? Weißt Du zu raten? Weißt Du zu opfern?“ - Magie und Zauberei bei den Germanen“ (2014) schreibt die vorzügliche und von mir hochgeschätzte Skandinavistin und Runologin Miriam Blümel, an deren Ausführungen wir keinerlei Korrekturen vornehmen müssen, S. 10ff:

„Kommen wir zu einem weiteren Aspekt des Seidhr [Zauberwerke], der Runenmagie: Wie wir in der Ynglingasaga gehört haben, ist Odin außerdem der Gott der Weisheit und der Runen. Die Weisheit über die Runen empfing Odin durch sein Selbstopfer an der Weltenesche Yggdrasil. Dieses lässt sich durchaus mit einem schamanistischen Initiationsritus vergleichen und entspricht der magischen Praxis des „útiseta“, des rituellen „draußen sitzen“. Dazu musste man sich in der Nacht in freie Wildbahn begeben, um die Geister der Toten rufen und befragen zu können. Die altnordische Literatur berichtet außerdem, dass man sich auf eine abgezogene und noch blutige Rinderhaut an einer Wegkreuzung setzen musste, um dann durch bestimmte Zaubersprüche - die wir aber nicht kennen - die Geister der Toten zu rufen und zu befragen. Odins Runenlied ist in den Götterliedern der Älteren Edda überliefert, in den sogenannten Hávamál, die Sprüche des Hohen. In Strophe 144 finden sich Fragen, die uns Hinweise liefern auf eine Technik der Runenmagie: „Weißt du zu ritzen? Weißt du zu raten? Weißt du zu finden? Weißt du zu forschen? Weißt du zu bitten? Weißt du zu opfern? Weißt du zu senden? Weißt du zu tilgen?“ Unklar ist jedoch, ob sie sich tatsächlich auf eine festgelegte Reihenfolge in der Ausübung der Runenmagie beziehen.

In den Sigrdrífumál, Die Erweckung der Walküre - enthalten in den Heldenliedern der Älteren Edda-lehrt die Walküre Sigrdrífa den jungen Siegfried, wo Runen stehen, welche Arten von Runen es gibt und wie sie zu gebrauchen sind. Strophe 6: „Siegrunen musst du kennen, wenn du Sieg haben willst, und auf den Griff des Schwerts ritzen, einige auf die Spitze, einige auf das Schwertblatt, und rufen musst du zweimal Tyr.“ Tyr ist der einhändige Kriegsgott der Asen, nach dem die Tyr-Rune (Tiwaz) benannt ist. Die folgenden Strophen nennen „Älrunen“, oder „Schutzrunen“ gegen Frauentrug: „Bierrunen“ auf Trinkhorn, Handrücken und Fingernagel einzuritzen soll z.B. gegen vergiftete Tränke schützen. Danach kommen „Geburtsrunen“, „Brandungsrunen“, „Zweigrunen“, „Rederunen“, „Denkrunen“ und „Buchrunen“. Sie alle seien voll Kraft für denjenigen, der sie klar und unversehrt zum Heil anwende. Heil im altgermanischen Sinn war eng verbunden mit Friede und Ehre, von denen glückliches und fruchtbares Gelingen abhängig war. Ohne „Heil“ war also kein Fortschritt möglich.

Sigrdrífa belehrt Sigurd auch, wo Runen stehen: Strophe 15: „Auf dem Schild sind sie geritzt, der vor der scheinenden Gottheit steht, auf Arwakrs Ohr und Alswids Huf, auf dem Rad, das sich dreht unter des Donnerers Wagen auf Sleipnirs Zähnen und auf des Schlittens Bändern. Strophe 16: Auf des Bären Tatze und auf Bragis Zunge, auf des Wolfs Klauen und auf des Adlers Schnabel, auf blut’gen Flügel und auf der Brücke Kopf, auf der lösenden Hand und auf der rettenden Spur. Strophe 17: Auf Glas und Gold und auf Glück des Menschen, in Wein und Bier und auf den Wunschsitz, auf Gungnirs Spitze und auf Granis Brust, auf der Norne Nagel und auf den Schnabel der Eule.“ Mit der scheinenden Gottheit ist die Sonne gemeint. Arwakr und Alswid heißen die beiden Pferde, die den Sonnenwagen ziehen. Der Donnerer ist Thor, der stärkste der Asen, der mit seinem Wagen überden Himmel zieht und mit seinem Hammer Mjöllnir Blitz und Donner verursacht. Sleipnir heißt Odins achtbeiniger grauer Hengst. Da Sleipnir der „Dahingleitende“ bedeutet, ist zu vermuten, dass die acht Beine für seine Schnelligkeit stehen. Bragi ist der Gott der Dichtkunst, die Runen auf seiner Zunge bewirken anscheinend seine Redegewandtheit und Wortfertigkeit. Runen, die auf blutigen Flügeleingeritzt waren, kennzeichnen wohl die kultische Praxis des „Blutadlers“. Dem Opfer wurden bei lebendigem Leib die Rippen vom Rückgrat getrennt, wie Adlerschwingen auseinandergefaltet und die Lungenflügel herausgezogen. Vermutlich sollte das Opfer „wie ein Adler“ zu Odin fliegen. Mit „Glück des Menschen“ in Strophe 17 sind wohl Glücksbringer gemeint, die man als Amulette um den Halstrug. Gungnir heißt Odins Speer, eines seiner wichtigsten Attribute. Er verfehlte niemals sein Ziel und hielt im Stoß nicht inne. Wenn Odin ihn über das gegenerische Heer warf, waren alle Feinde, über die der Speer flog, dem Tode geweiht. Mit ihm verwundete Odin sich selbst bei seinem Hängeopfer an der Weltenesche Yggdrasil. „Odin hat euch alle“ wurde gerufen, wenn in einer Schlacht der Speer über die Feinde geworfen wurde. Grani heißt Sigurds Pferd, des Heldenaus „Der Erweckung der Walküre.“ Die Nornen sind die drei Schicksalsfrauen. Gemeint sind hier wohl deren Fingernägel, denn ihre Haupttätigkeit, das Weben, wird mit den Händen ausgeführt. Die Runen auf den Fingernägeln steuern somit dessen Gelingen, bzw. die Auswirkung des Webens der Schicksalsfäden. Unklar ist bei diesen drei Strophen, ob die mythologischen Wesen nicht auch metaphorisch für Gegenstände/Tiere/Lebensmittel stehen könnten, wo Runen eingeritzt wurden, und wenn ja, für welche.

Seite 17f: Wir verlassen nun den großen Themenbereich der altnordischen Literatur. Ich möchte Ihnen im Folgenden ein paar archäologische Hinterlassenschaften vorstellen, die wir mit magischen Vorstellungender Germanen in Verbindung bringen können sowie vereinzelte literarische Quellen vom Kontinent. Um die Definition von Runen im wissenschaftlichen Sinn nochmal auf den Punkt zu bringen: Analog zu anderen Alphabeten waren Runen in erster Linie eine Gebrauchsschrift, rein funktionelle Zeichen zum Schreiben. Je nach Situation und Kontextkönnen sie aber sakrale, profane oder magische Verwendung finden, was aber im Einzelfall aufgezeigt und begründet werden muss. Einer der wenigen archäologischen Funde, dessen Runeninschrift von der Wissenschaft einstimmig als „magisch“ anerkannt wurde, ist das Amulett aus dem Lindholmen-Moor in Schonen in Schweden. Es handelt sich um ein fein gearbeitetes Stück Tierhorn, das 1840 beim Torfstechen auf dem Boden eines tiefen Moores, dem Lindholmen-Moorgefunden wurde. Das Versenken im Moor könnte darauf verweisen, dass das Amulett als Opfergabe gedacht war. Folgende Inschrift wurde zwischen 350 und 550 n. Chr. auf dem Amulett angefertigt. :ekerilazsa[w]ilagazhateka: Ek erilaz sa Wilagaz haite'ka oder Ek erilaz Sawilagaz haite'ka. Ich der Erilar hier werde Wilagar (der Listige) genannt oder Ich der Erilar heiße Sawilagar.

„Der Name Erilar bedeutet Jarl, verwandt mit dem englischen „Earl“, war er ab der Germanischen Eisenzeit bis ins Hochmittelalter ein Fürstentitel in den nordischen Ländern. Die früheste Verwendung des Jarlsbegriffs taucht in Runen-Inschriften aus dem 5. Jahrhundert auf. Die Inschriften sind von der Mitte Norwegens bis nach Südschweden und Fünen zu finden. In diesen Texten heißt der Jarl erilaR. Alle haben vor erilaR ein betontes ek (= ich) stehen. Oft nennt sich der erilaR mit seinem Namen, woraus sich ergibt, dass es sich um einen Titel handelt. Die Seltenheit der Inschriften weist auf einen kleinen Kreis der Nutzer und damit auf den hohen Rang verbunden mit einer Bildung hin, die die Kenntnis der Runenschrift beinhaltet. Oft stellen die Texte die Schriftkundigkeit des erilaR besonders heraus. Der erilaR war auch Runenmeister. Da die Runen einen magischen Kontext hatten, muss der Jarl auch u.a. eine religiöse Funktion ausgeübt haben. Hier und da ist auch von Weihehandlungen durch den erilaR die Rede. In seiner gesellschaftlichen Funktion hatte der Jarl oder Erilar also sowohl weltliche als auch religiöse Aufgaben inne. Nach der ek erilar-Inschrift folgt eine ganze Reihe von Runen:

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 Sie enthält die Runen a (Ansuz) (8 x), Z Algiz(3x), n (Naudhiz)(3x), b, m, u, t (3x) und im Trenner eingeschlossen :alu: Die A-Rune, alsoAnsuz könnte für die Asen, die Götter stehen, die Rune Algiz für Schutz und Naudhiz bedeutet Not. Die Rune Tiwaz könnte für die dreimalige Anrufung des Gottes Tyr stehen. Der bekannte Runenforscher Klaus Düwel sah bei der Inschrift des Lindholmen-Amuletts eine Parallele zu einem Schadenzauber, der in einer spätmittelalterlichen Sammlung von Zaubersprüchen aus Island steht, im sogenannten Galdrabok. Dieses Zauberbuch beschreibt Runen und magische Zeichen, enthält Zaubersprüche und Schutzgebete und zählt Dämonen und Unglückstage auf, allerdings im christlichen Kontext. Es befindet sich darunter auch eine Anleitung, welche Runen zu gebrauchen sind, wenn man starke Magenprobleme bei jemandem hervorrufen will: „Schreibe diese Runen mit deinem eigenen Blut auf weißes Kalbsleder. Nimm das Blut aus deinen Oberschenkeln und sag dabei: Ich ritze dir 8 Asen, 9 Nöte, 13 Thursen (Riesen)“.

Wir verlassen an dieser Stelle Skandinavien und schauen, wie es mit Überlieferungen auf dem Kontinent aussieht und zwar in der Germania. So hieß nämlich auch eine bekannte Ethnographie über die Germanen aus dem1. Jhdt. n.Chr., geschrieben von dem römischen Chronisten Tacitus. Er berichtet vor allem über die verschiedenen Stämme bei den Germanen und ihre Sitten und Gebräuche. Hinsichtlich der Anwendung von Magie beschreibt er ein zukunftsdeutendes Orakel bei den Germanen. „Vorzeichen und Losorakel beobachten sie (die Germanen) wie kaum ein zweites Volk.

Das herkömmliche Verfahren beim Losorakel ist recht einfach: Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum ein Reis ab, zerschneiden es in Stäbchen, versehen diese mit bestimmten Zeichen und streuen sie planlos über ein weißes Tuch, wie sie ihnen geradeunter die Hand kommen. Dann betet der Stammespriester, wenn eine Befragung von Stammes wegen erfolgt, bei privater Befragung der Hausherr persönlich, zu den Göttern und hebt. Ob es sich hierbei um ein Ritual zur Befragung von Runen handelt, wissen wir nicht. Tacitus jedenfalls sagt weder etwas über Runen noch Schriftzeichen überhaupt sondern er schreibt „NOTAE“ =Zeichen. Bei Schriftzeichen hätte er wohl „LITTERAE“ verwendet. Jedoch ist die Erwähnung in der Germania ein gutes Beispiel für die Zukunftsvorhersage durch Divination.

Tacitus und spätere Autoren beschreiben mehrfach germanische Seherinnen, welche offenbar eine bedeutende und politische Rolle bei den Stämmen einnahmen, die mit den Römern in Kontakt getreten waren. Das Bild dieser Seherinnen unterscheidet sich so deutlich von Frauen im römischen Kult, dass es sich um eine weitgehend genuine Tradition bei den Germanen gehandelt haben könnte. Eine der historisch bedeutsamsten Seherinnen war sicherlich Veleda vom Stamm der Brukterer. Sie wohnte getrennt von der profanen Umwelt zurückgezogen in einem Turm unweit der Lippe im heutigen Westfalen. Die Seherin kommunizierte für ihre Weissagedienste und generell nur über Verwandte, die die Anfragen und Antworten übermittelten. Tacitus beschreibt sie als eine hochgewachsene junge Frau. Sie förderte 69 n. Chr. durch ihre Voraussagen den Aufstand der Bataver, ein germanischer Stamm am Niederrhein und sagte richtig den Sieg der Bataver voraus. Während des Bataveraufstands geriet ein römischer Legionskommandant in germanische Gefangenschaft und wurde der Veleda als Geschenk gebracht. Als die Bataver wenig später auch noch ein römisches Schiff kapern konnten, wurde dieses auch noch zu Veleda gebracht. Tacitus schreibt dazu in Kapitel 8 seiner Germania: „Wir haben es unter dem seligen Vespasian erlebt, dass Veleda be ivielen lange einen göttlichen Platz einnahm; aber auch schon langevorher wurden Albruna und einige andere verehrt, aber nicht durch Kriecherei oder als ob sie sie etwa erst zu Göttinnen machten.“

Veleda und die anderen antiken Seherinnen wie Waluburg, Albruna und Gambara haben gemeinsam, dass sie sowohl von den einheimischen als auch von den römischen Herrschern mit hohem Respekt behandelt wurden. Verglichen mit der altnordischen Literatur gibt es kaum Quellen über magische Praktiken der anderen germanischen Völker vom Kontinent. Parallelen lassen sich jedoch finden in den althochdeutschen oder angelsächsischen Gedichten, besonders im Gebrauch von Zaubersprüchen. 1841 entdeckte man in der Bibliothek des Domkapitels Merseburg eine Handschrift aus dem 9. oder 10. Jhdt. Es handelt sich um zwei Zaubersprüche, die in althochdeutscher Sprache verfasst wurden. Jacob Grimm nahm sich der Bearbeitung und Übersetzung an und fand heraus, dass der Inhalt sicherlich viel älter ist als der Zeitraum ihrer Niederschrift. Bei den Merseburger Zaubersprüchen sind wir sozusagen in der glücklichen Lage, noch tatsächlich heidnische Sprüche vorzufinden, die sogar noch die alten heidnischen Gottheiten enthalten und noch nicht durch Christus und die Heiligen ersetzt wurden. Der erste Merseburger Zauberspruchsoll bewirken, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. „Einst saßen da ehrbare Frauen (idisi), saßen hier und dort, einige woben Bande, einige lösten Bande der Krieger, einige zerklaubten die Fesseln. Entspringe den Fesseln und entfliehe den Feinden!“ Hier sind es weibliche Wesen, die sogenannten idisi, welche die Gefangenen befreien können. Idisi bedeutet auch althochdeutsch „ehrwürdige Frauen“, der Begriff könnte sich allerdings auch auf die Disen in der germanischen Mythologie beziehen. In diesem Fall handelte es sich um die weiblichen Ahnen einer Sippe, die häufig als deren Schutzgeister verehrt wurden. Einen ganz anderen Zweckverfolgt der 2. Merseburger Zauberspruch: die Heilung eines Pferdes, nämlich das Fohlen von Balder Odins Sohn, welches seinen Fußverrenkt hat. Odin (also Wodan) tritt hier als Zauberarzt auf. „Phol und Wodan ritten in den Wald da wurde der Fuß von Balders Fohlen verrenkt; da besang es Sintgut und Sunna, ihre Schwester, da besang es Friia und Volla, ihre Schwester, da besang es Wodan, der dies gut konnte: Sei es Beinrenkung, sei es Blutrenkung, sei es Gliedrenkung: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, als wenn sie geleimt wären!“ (oder: dass sie gelenkig sind!).

Von den überlieferten Göttern der germanischen Mythologie können wir nur Odin und Balder verlässlich identifizieren. Bei dem Namen Friia könnte es sich um die Göttin Frija oder Frigga handeln, Odins Gemahlin. Bei den anderen Namen ist nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um Namen von Göttern handelt, da für ihre Übersetzung verschiedene Interpretationen bestehen. Nachdem im ersten Teil des Spruches die Namen der zuständigen Heiler aufgezählt werden, enthält erst die zweite Hälfte der Strophe den eigentlichen Spruch, der die Heilung bewirken soll, nämlich die Heilung von Balders Fohlen. Interessanterweise könnte sich eben dieses Motiv bereits auf Goldbrakteaten aus der Völkerwanderungszeit befinden. Hierbei handelt es sich um kreisrunden einseitig geprägten Hängeschmuck, der wahrscheinlich an einer Kordel als Amulett um den Halsgetragen wurde.

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 Brakteaten-Beispiel (Text nicht von M. Blümel): Die Produktion der germ. Goldbrakteaten ließ sich von spätröm. Goldmedaillons inspirieren, ihre eigenen Mythologien ins Bild zu setzen. Ihre völkerwanderungszeitliche Datierung ist nicht schwer, hier: 450/550. Die Deutung vieler ihrer Bildinhalte wurden von Prof. Karl Hauck erschlossen. Die Runeninschriften sind zum Teil deutbar, wie auf diesem Stück, das zur Gruppe der sog. C-Brakteaten gehört. Ihre Heimat ist die weite Germania bis Skandinavien. Hier der Fund von Szatmar (Grenzbereich von Ungarn/Rumänien) stammt aus einem der germ. Siedlungsgebiete. Vorderseite: Götter-Kopf im Profil nach rechts, darunter Opferwesengesamtheit Pferd-Stier-Bock. Vor dem Kopf das germ. Heilszeichen Hakenkreuz bzw. Schweifkreuz. Das ganze Amulett in Perldrahteinfassung mit Trageöse. (Staatliche Museen zu Berlin, Münzkabinett)

Weiter im Text von M. Blümel: Hauptfundgebiet der Goldbrakteaten ist Skandinavien, d.h. Dänemark, Schweden, Norwegen, aber auch England, Friesland und seltener Norddeutschland. Verbreitet war ihre Herstellung von der Mitte des 5. Jhdt. bis ins zweite Drittel des 6. Jhdt. Ursprünglich waren die Brakteaten Imitationen spätantiker römischer Kaisermedaillons, bis in die Völkerwanderungszeitersetzten allerdings germanische Motive den römischen Kaiser. Neben der Abbildung von Göttern (als Personen-Tierdarstellungen), finden sich auch die Darstellungen von Schweinen, Vögel, Phantasiegebilde und Pferden. Die Motive der sogenannten „C-Brakteaten“ (es gibt auch noch weitere Unterteilungen in A-E Brakteaten) stellen ein Haupt dar, unter dem sich stets ein Vierbeiner befindet. Dieses wurde bislang als Pferd gedeutet, daher heißen die C-Brakteaten „Gott-Pferd-Amulette“. Bei dem Gotteshaupt könnte es sich um den völkerwanderungszeitlichen Odin handeln. Odins Aktivität bezieht sich sichtbar auf das Ohr des Tieres bzw. auf seinen Nackenkamm. Vermutlich kommt ein Hauch aus seinem Mund oder seiner Nase, vielleicht aber auch ein Zauberspruch, der das Pferdheilen soll. Hiermit hätte Odin die Funktion eines „Zauberarztes“, wie im Zweiten Merseburger Zauberspruch von ihm die Rede ist.

Neben den Merseburger Zaubersprüchen hat sich auch noch eine Reihe von christlichen Segenssprüchen erhalten. Diese hatten aber im Prinzip genau dieselbe Funktion wie die heidnischen Zaubersprüche, nur eben christlich interpretiert. Ein Beispiel ist der sogenannte Spurihalz-Segen oder Trierer Pferdesegenaus dem 10.Jhdt., der ebenfalls der Pferdeheilung dienen sollte und in welchem die heidnischen Götter im Prinzip nur durch Christus und den Heiligen Stefan ersetzt wurden: „Christus und der Hl. Stephan kamen zu der Stadt Saloniun, da wurde das Pferd des Hl. Stephan befallen. So wie Christus die Befallenheit des Pferdes des Hl. Stephan heilte, so heile ich mit Christi Hilfe dieses Pferd. Pater Noster. Christus, mögest du die Heilung dieses Pferdes von der Befallenheit oder dem Spurihalz durch deine Gnade gewähren, so wie du das Pferd des Hl. Stephan in der Stadt Saloniun geheilt hast. Amen.“ Spurihalz ist der althochdeutsche Begriff für eine Form von Pferderheuma.

Mit christlicher Magie haben wir es auch bei den sogenannten Bleiamuletten zu tun, die aus dem 12.-15. Jahrhundert stammen. Sie sollten Dämonen abwehren, zu denen auch die einheimischen Elfen oder Alben zählten, die Wesen der niederen germanischen Mythologie. Ihnen schrieb man die Verbreitung von Unglück und Krankheiten zu. Es handelt sich hier um christlich-magische Inschriften. Fast alle Bleiamulette wurden zusammengefaltet, so dass die Inschrift dem menschlichen Auge verborgen bleiben sollte, wie bei einem Amulett, das in der Altstadt von Schleswig gefunden wurde. Auf der Außenseite des Amuletts befand sich die sogenannte „SATOR-AREPO Formel“. […] Auf der Innenseite trägt das Blei-Amulett eine weitere Inschrift, die offenbar Unheil abwehren sollte: „Ich beschwöre Euch, ihr Dämonen und Elfen, und alles Unheil und alle Hindernisse, bei dem einen Gott, dem allmächtigen Vater, und seinem Sohn Jesus Christus und dem Heiligen Geist, dass ihr (mir) diesem Diener Gottes nicht schaden möget weder bei Tag noch bei Nacht noch zu einer anderen Stunde.“ Dämonenfurcht prägte die Mentalität des Spätmittelalters. Alle Götter und Wesen der germanisch-heidnischen Religion hatte man zu diesem Zeitpunkt diabolisiert. Ihre Charaktere, die vorher von wohlwollend über vielschichtig bis zwiespältig rangierten, wurden als ausschließlich dämonisch und teuflisch umgedeutet.