TRAUM UND WIRKLICHKEIT

Ach, wär’ ich meiner Schwere doch entbunden,
gelöst von meines Leibes eigener Last -,
in blauen Fernen wär’ ich da entschwunden
und weilte weit, als ferner Welten Gast.

Dem milden Sommerwind verwandt
und kleine weißen Wölkchen auch -,
geleitet von der Sonne Strahlenhand -,
so leise schwebend, als verträumter Hauch.

Ein solches Sein ist all mein Sehnen,
die Nächte sind erfüllt von diesem Traum,
die Tage aber füllen stille Tränen -,
und heißer bitten könnt’ ich kaum.

Doch Schöpfers Strafe, oder nur Versehen,
schuf uns die Art der ungefügen Glieder,
nun hilft kein Murren, oder Flehen,
und nur ein Zauber bringt uns Freiheit wieder.

Befreiung von des plumpen Körpers Hülle,
der wie ein Panzer uns Ich beengt,
der immer wieder Geist und Wille,
auf seine eigenen engen Bahnen lenkt.

So sind wir festgeschmiedet an die Erde,
unbekannten Mächten schwer zu fronen,
wie eine riesengroße Sklavenherde,
gebückt vor nie geschauten Thronen.

Schweiß Schmutz und Blut als Kastenmal,
und in den Augen heißer Hilferuf --;
doch schien dies’ nicht genug der Qual,
dass man uns eine zweite Folter schuf.

Es lastet wie ein schweres Joch die Zeit
auf angstgequälter Menschenstirn:
Es gibt nur Zukunft und Vergangenheit -,
und dieses Wissen martert jedes Hirn.

Die Gegenwart ist uns genommen,
der Augenblick zu kurz bemessen -,
es darf die Zukunft viel zu rasch entkommen,
Vergangenes ward ohne Wert besessen.

Doch jenen Uhren zu entrücken,
in andere Zeiten zu gelangen,
das wird in diesem Leben niemals glücken,
in unseren Räumen leben wir gefangen.

Die Sorgen liegen wie ein dichter Dunst,
wir sind darin den stummen Fischen gleich -;
Erlösung schenkt uns erst des Todes Gunst,
ein schwereloses Sein bringt erst sein Reich.

 
(1963)

Bild: „Traum und Wirklichkeit“ von Sabine Budin