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ZURÜCK NACH THULE
 
 
Als das Gotenreich mit seinem Zentrum in der Ukraine unter dem greisen König Ermanarich 375 dem Hunnensturm erlag, kam es zur Herrschaft dieser mongoliden Reitervölker bis zum Jahr 454, als die Gepiden nach Attilas Tod einen Aufstand unternahmen, dem sich auch Heruler anschlossen, um das Hunnenjoch erfolgreich abzuschütteln (Jordanes „Getica“, 262). Daraufhin gelang es Herulern ein selbständiges Gemein­wesen im Raum der südlichen heutigen Slowakei, des östlichen „Weinviertels“ und des Wiener Beckens zu errichten. Sie halfen dem Skiren Odoaker seit dem Jahr 476 weströmisches Territorium zu beherrschen, wurden von ihm mit großzügigen Landvergaben und Geldmitteln gefördert, blieben ihm höchst verbunden und treu bis zu dessen Niederlagen gegen die durch Ostrom legitimierten Ostgoten des Theoderich, der schließlich Ravenna belagerte. Im Juli 491 missglückte der letzte große Ausbruchs­versuch, der als „Rabenschlacht“ in die Sage einging, dabei wurde auch ein Großteil von Herulern getötet. Diese Erinnerung könnte eine vage Rolle gespielt haben, warum sie zwei Menschenalter später Kontingente von ihnen bei der Zerschlagung des Ostgotenreiches mitwirkten. Wie ernst „Theoderich der Große“ die Heruler nehmen musste, wird daraus ersichtlich, dass er sie nach seinem Sieg zu beschwichtigen versuchte, indem er ihren König Rodulf („Rotwolf“) als Waffensohn adoptierte, also ein sehr enges Verhältnis schuf. Dieser Rodulf soll aber von einer übermütigen Partei seiner Verbände bedrängt worden sein, einen neuen Krieg gegen die unter Herzog Tato im „Pester Becken“ siedelnden Langobarden vom Zaun zu brechen, obwohl sie ihnen bereits tributpflichtig waren. Nachdem ihr Anführer fiel, erlitten die Heruler 508 eine totale Niederlage und mussten ihre Stammsitze aufgeben. (Prokop, „Gotenkrieg“, II., 14) Es könnte sein, dass ihr aggressiver Flügel doch nicht ganz unbegründet für weiteren Kampf mit den Langobarden votiert hatte. Der Gote Jordanus erwähnt  in seiner „Gotengeschichte“ zwar auch einem Gesandtenmord der Langobarden; ausgerechnet der Bruder des Heruler-Königs soll heimtückisch umgebracht worden sein. Doch waren Teile der langobardischen Führungsschicht zum arianischen Christentum übergetreten, was die (arbeitshypothetisch) runenreligiösen Heruler als wachsende nachbarschaftliche Provokation hätten verstehen können.
 
In Folge der katastrophalen herulischen Niederlage 508 wanderte eine adelige Kernschar - ich bezeichne sie als runische Wissensträger - zurück, über Norddeutschland zu den ihnen wohl vertrauten Wanen und Danen und über die dänischen Inseln hinaus, bis nach „Thule“, also Skandinavien, und ließ sich dort bei den gastlichen „Gauten“ (Goten), also im Schwedischen nieder. Etliche Heruler gingen im Reich der Langobarden auf, andere wichen nach Osten aus, kamen ins Reich der Gepiden, gerieten mit denen aber auch in Streit; eine Gruppe fand 512 Aufnahme im Oströmischen Reich unter Kaiser Anastasius und vermochte beim heutigen Belgrad ein kleines Föderatenreich zu errichten. Nach einer Niederlage gegen röm. Truppen baten sie um Schonung, indem sie ihre Bundesgenossenschaft anboten. Prokop schreibt dazu: „Aber sie wurden weder Bundesgenossen der Römer, noch tat sie etwas für sie.“ („Gotenkrieg“, II. 14) Unter Kaiser Justinian I. standen diese Heruler nicht selten im militär­isch­en Reichsdienst. Prokop merkt dazu an: „Jedes mal nun, wenn die Gesandten der Heruler nach Byzanz kommen, nehmen sie für dieselben Leute, welche die römischen Untertanen brandschatzen, ohne weiteres Subsidien in Empfang und gehen damit nach Hause.“ Manche, dem Druck der Zeitläufe folgend, „fügten sich christlichen Bräuchen“. „Später blieben nur einige den Römern treu … die meisten fielen ab …“. In Laufe der Kriege Ostroms gegen Wandalen in Nordafrika (533-534) und gegen Goten in Italien (535 bis 552) verfolgten die Heruler, trotz ihres Föderatenstatus, eine eigenwillige, immer schwanken­de Position. Für den oström. Feldherrn Belisar leisteten sie gute Dienste. Schnell wurde das Vandalenreich zerschlagen, weil der durch den Überfall hervorgerufene Überraschungseffekt auf oström. Seite lag und weil die beste Wandalenmannschaft kurz vorher nach Sardinien abgefahren war, um einen Aufstand zu bekämpfen. Interessant für uns ist in diesem Zusammenhang nur, dass ein Eruler namens Pharas beauftragt wurde, die schriftlichen Übergabeverhandlungen mit Wandalenkönig Gelimer zu führen. Mittels welcher Schrift sich die beiden Germanen verständigt haben, bleibt zwar unbekannt, doch daraus geht hervor, dass Heruler nicht durchgängig so „barbarisch“ gewesen sein können, wie es Prokop gerne schildert. (Prokop, „Vandalenkrieg“, II.) Auch dem oström. General Narses war im Gotenkrieg eine heru­lische Truppe von zwei- bis dreitausend Mann, unter eigenen Führern beigegeben, die „wegen ihrer barbar­ischen Wildheit besonders geschätzt“ wurde. Sie leisteten zuweilen hervor­ragende Waffendienste, ein anderes Mal verweigern sie den Kampf gegen die Goten. Warum Prokop sie aus der Fernsicht des Uneingeweihten so überaus negativ beurteilt, bleibt nicht rätselhaft. Der Wodan-Kult, aus der harten Schule römisch-imperialistischer Realitäten hervorgegangen, hatte sie zu gefürchteten Kriegern geformt. Prokop wirft ihnen die Laster der Trunkenheit, Kriegswut, Raubsucht, des trotziger Übermutes, der Sittenlosigkeit und Treulosigkeit vor. Es schreibt: „Sie sind überhaupt die schlechtesten aller Mensch­en.“ Höchtwahrscheinlich weil sie völlig immun gegen christliche Verführungspredigten blieben, sie verlachten und verspotteten. Sie übten also sämtliche Grundsätze der wodanischen Oding-Religion, den kultisch-dionysischen Rauschtrank, die todesverachtende Berserkenhaftigkeit, die Skrupellosigkeit gegenüber den Feinden. Mitte 6. Jh. soll der Heruler-König Ochon nach Byzanz gegangen sein, und ließ sich taufen. Doch wurde er „plötzlich“ von seinen Leuten erschlagen „weil es ihnen einfiel, künftig ohne König leben zu wollen“. Dass das aber nicht die Ursache gewesen sein kann, sondern viel eher sein Kniefall, ersieht man daraus, dass sie sich entschlossen, einen Edlen „aus königlichem Geschlecht von der Insel Thule holen zu lassen“ (Prokop, „Gotenkrieg“ II.). Der ersehnte König namens Toda(sius) kam mit seinem Bruder und einem Geleit von 200 Jünglingen.
 
„In vielen Stücken wichen sie von den Gewohnheiten der anderen Menschen ab“, meint Prokop und schildert im Folgenden die Witwentötung wie sie ähnlich noch im 10. Jh. die nordischen, noch heidnischen, aus Schweden stammenden Waräger übten (Ibn Fadlans Reisebericht). Einen weiteren beachtenswerten Heruler-Bericht liefert der Historiker Prokop als Zeitzeuge, wenn er mitteilt: „Wenn sie nämlich alt oder krank werden, dürfen sie nicht mehr leben, sondern wer altersschwach oder krank wird, muss seine Verwandten bitten, dass sie ihn so bald wie möglich vom Leben zum Tod  bringen, dann türmen sie einen Scheiterhaufen, auf dem jener Platz nimmt, und schicken einen Heruler mit einem Dolch zu ihm; der soll aber nicht mit ihm verwandt sein, denn ein Verwandter darf den Todesstreich nicht führen.“ („Gotenkrieg“ II., 14) Ähnlich harte Bräuche sind für den skandinavischen Norden bezeugt, doch hinzu kam das gleiche tröstliche Gebot für die jenseitsgläubigen Männer der erulischen Wodan-Religion, dass, wenn sie von Waffenmalen oder ersatzweise blutgezeichnet stürben, „Er“ sie in die Freudenhalle seines jenseitigen Krieger-Paradieses aufnehmen würde. Heißt es doch von ihrem Gründer Erul, dessen Worte seinem verkündeten Gott in den Mund gelegt wurden: „und da er im Sterben lag, ließ er sich mit der Spitze eines Speeres zeichnen und erklärte alle Männer für sein eigen, die in ihren Waffen stürben. Er sagte, er führe nach Götterheim und würde dort seine Freunde bewillkommnen.“ (Ynglingasaga, 9)
 
Sicher, es gab herulische Auxiliarien, doch als treue Römervasallen und gute Christen sind Heruler nicht bezeugt, sie werden oft genug von den Gesetzen des reinen Überlebenswillens bestimmt worden sein und wechselten gruppenweise die Fronten in den wogenden Scharmützeln zwischen oström. Heerführern, Gepiden, Langobarden und Goten. An ihrer ursprünglichen runenreli­giösen Grundverfassung werden sie nicht alle und immer haben festgehalten können. Aber die ikonographische Bildsprache der nordischen Goldbrakteaten des 5. und 6. Jhs. zeigen eine Hochphase der Wodin-Odin-Oding-Religion in den Urheimatzentren der Nordleute. Die germanischen Gemeinschaften, die um die Mitte des 4. Jh. an den Nordostgrenzen des Römischen Reiches siedelten, wurden während der Vorherrschaft des Arianismus, der altgläubigen Vorstellungen mehr Spielraum ließ, christlich beeinflusst. Bei den Goten war die Runenschrift durch ihren engen Umgang mit den Herulern - mithin wohl auch der Wodan-Kult - nicht unbekannt. In der Regierungszeit des oström. Kaisers Valens (364-378) hatten Goten, die Hunnengefahr im Nacken, um Siedungsraum und Ackerboden auf römischem Gebiet nachgesucht. Würde ihnen die Bitte gewährt, wären sie bereit, gute Untertanen und auch Christen zu werden. Pure Not und politischer Druck waren also die Ursache für die Bereitschaft zum Glaubenswechsel. Als im Folgenden der gotische Bastard und christliche Eiferer Ulfilas (311-383) die Bibelübersetzung ins Gotische vornahm, durfte er sich natürlich des rein heidnischen Mediums der Runen nicht bedienen, vielmehr schuf er für sein missionarisches Vorhaben eine Mischung aus lateinischen, griechischen und kaum runischen Buchstaben. Allerdings ist der sog. „Codex Argenteus“ lediglich in einer Abschrift aus dem 6. Jh. erhalten, die in der Regierungszeit Theoderichs des Großen verfasst wurde. Wie Bischof Ulfilas Urschrift aussah bleibt uns verschlossen.
 
Fürderhin gab es im gotischen Volk - und bald auch in den anderen Germanenstämmen - zwei rivalisierende Parteiungen, nämlich die christlich-arianische, welche eher dem römischen Lebensgefühl zuneigte, und den im eigenen Väterglauben verharrende allgemeine Volksteil, den Ulfilas, einen Begriff für Nichtchristen / Heiden suchend, in seinem Übersetzungswerk mit dem Adverb „thiudiscô“ bezeichnete. Dazu verdeutlicht Friedrich Nietzsche: „Vergessen wir doch nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfna­men sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach 'die Hunde': so wurden sie von den Chinesen getauft. Die 'Deutschen': das bedeutet ursprünglich 'die Hei­den': so nannten die Goten nach ihrer Bekehrung die große Masse ihrer ungetauf­ten Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Übersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen 'die Völker' be­deutet: man sehe Ulfilas. - Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche Volk Europa's würden, wozu in hohem Maße angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk Luther's zur Voll­endung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: 'hier stehe ich ! Ich kann nicht anders !'" („Die fröhliche Wissenschaft“, 166) Offiziell wurde, schon wegen des außenpolitischen Druckes durch Ostrom, der Arianismus das einigenden Band der verchristlichten Germanenvölker an des Imperiums Nordgrenzen und im zunehmenden Maße als Föderaten innerhalb der Reichsgrenzen, wobei von einer christlichen Durchdringung des germanischen Volksganzen keine Rede sein kann -; das geschah durch kirchliche Zwangsmaßnahmen erst im Verlauf des Hochmittelalters.
 
CHRISTUS-JESUS ODER HEILGOTT-WODAN
 
Was sich beim intensiven Quellenstudium abzeichnet, ist die Erkenntnis von einem jahrhundertelang geführten Kampf zweier Religionsangebote, zweier sich zunächst gegenseitig ausschließender Heilsangebote von zwei Magier- bzw. Priesterkongregationen, welche vorgaben, das zaubrische Heilswissen um Gott zu kennen, auch zweier sich befehdende, welterklärende Schriftsysteme, die sich gegenseitig ächteten in ihrem Ringen um die germanische Seele. Für einen sensiblen Beobachter ist dieser Riss bis in die inneren Auseinandersetzungen der Deutschen des 20. Jahrhunderts erkennbar. Neben den Positionen der Puristen, der Konsequenten und Kompromisslosen gab es aber auch schon frühe Neigungen zum Synkretismus, zum Spannungsabbau, zum gegenseitigen Befruchten und Ergänzen -; und dann, im Zuge des auf staatlichen Druck erfolgten christenkirchlichen Übergewichtes, das Aufsaugen heidnischer Verständnisweisen in die sich entwickelnde scheinchristliche Volksfrömmigkeit. Die kriegerischen Langobarden in Italien erwählten als ihre Schutzpatrone streitbare „heilige“ Lanzenträger, den Michael, den Drachentöter Georg und den Mercurius. Der Michaelskult wurde der offizielle des Königtums in Pavia. Im Herzogtum Benevent - jener Fluchtburg der Traditionsbewussten und Freiheitsliebenden - die sich nach 774 nicht unter das Joch der Frankenherrschaft beugen mochten, der Hl. Mercurius, auch ein verchristlichter Wodan, als Staatspatron galt. Diese Militärheiligen, in denen man staatspolitisch hochbedeutsame Vertreter der imperialistischen Himmelsarmee sah, genossen die gleiche hohe Verehrung wie ihre heidnischen Vorläufer und Vorlagen. (Karin Priester, „Geschichte der Langobarden“, 2004, S. 140, 164) Wie sich heidnische und christliche Verständnisse aneinander anpassten, geht aus einer Vielzahl von Quellenzeugnissen hervor. Sehen wir uns die langobardisch-alamannischen gleichschenkligen Goldblattkreuze des 6.-7. Jhs. an, aus dünnen Goldfolien, die auf ein Tuch genäht, den Verstorbenen mit ins Grab gegeben wurden. Oft genug erscheint auf den Kreuzarmen die wodanische Doppelschlange als Reinkarnationssinnbild, das germ. Flechtmuster als Schicksalsschlingen-Chiffre und im Kreuzmittelpunkt der heidnische Knoten, oder schnauzbärtige Wodankopf, wie z.B. bei dem aus Grab 83 von Sontheim Krs. Heidenheim und dem von Lauchheim, Grab 38. Aus Grab 48 von Donzdorf stammen zwei wodanische Seelenvogel-Goldbleche die einem nicht mehr vorhandenen Kreuz aufgeheftet waren. Gleiches fand man im Grab 26 von Giengen (an der Brenz), wo die beiden Wodanvögel-Goldplättchen zum Goldblattkreuz gehören, dessen Model den heidnischen Hängebart-Gott vorführt. Trotzdem werden Goldblattkreuze, man sollte sie besser Sonnenkreuze nennen, wie das aus dem Reitergrab von Landsberg / Lech-Spötting mit kreissegmentförmigen Schenkeln, als „eindeutiger Beweis für die Christianisierung der Alamannen und Bajuwaren“ gewertet, obwohl das Zentralmotiv ein Wodankopf mit den typischen Haarknoten ist, wie man sie von den heidnischen Goldbrakteatenbildern kennt. (Wilfried Menghin, „Frühgeschichte Bayerns“, 1990, Abb. 46a) Ohnehin ist es ignorant, das gleichschenklige Kreuz, das uralte Sonnenheilszeichen, grundsätzlich per se als christliches Symbol zu werten, worauf sich manche Interpretatoren versteift haben. Die Formen des Malteser-, Tupfen-, Radkreuzes sind vorchristlich, gehören z.B. schon zum Bildbestand bronzezeitl. Felsgravuren Skandinaviens. Die irischen Bildnisse des „Gekreuzigten Gottes“ demonstrieren keinen am Kreuzgalgen hängenden, zum Tode Verurteilten, vielmehr den Heilbringer mit den überdimensionalen großen Segenshänden, wie er ebenfalls bereits zum bronzezeitlichen Felsbildbestand gehört (Bräcke, schwed. Bohuslän). Ebenso zeigt der vorkarolingische heidnische „Herrgott von Bentheim“ zwar einen Mann am Kreuz, doch es ist kein Galgenkreuz, vielmehr steht der bekleidete „Erlöser“ (heute beim Bergfried der Burg) mit erhobenen, segnenden Händen in Gestalt der Er-Rune davor, der Rune des Himmelsgottes. Ertag / Erchtag ist ein süddt. Name des Dienstags (Tag des Himmelsgottes), dessen mhdt. Bezeichnung dingesdach auf den Namen Thingssus, den germ. Gott Tiu / Tyr (Beschützer des Things) zurückgeht. Die Figur ist eines der alten Zeugnisse für die spätheidnische Volksregion, welche integrierte christenbotschaftliche Impulse in ihrem eigenen Sinne verarbeitet hatte. Der Ausruf „Herrgott von Bentheim“ war einstmals ein weithin bis nach Süddeutschland verbreitetes Stoßgebet, also ein Zeichen für die Bekanntheit der alten Heilbringerfigur über die Bentheimer Grafschaft hinaus. Eine schwäbische Redensart ist: „Herrgott von Bentheim, got's do zua“ (es geht sehr laut und ungeordnet zu). Ein weiteres vergleichbare Objekt ist der tausendjährige solare Heilbringer, ungenagelt vor dem Kreuz stehend, mit Sonnenwirbel über dem Haupt, in der Vorhalle des Merseburger Domes / Sachsen Anhalt. Der hängebärtige Germanengott erscheint ebenso im sicher älteren Tympanon das der Pforzheimer Altstadtkirche „St. Martin“ aus Mitte 12. Jh. eingebaut wurde, wo das zentrale heidnische Schlingenmotiv und der angekettete Fenriswolf ein kleines wie nebensächliches Kreuzchen dominieren. Im goldenen Siegelringbild von Lauchheim (Abb. 10 ) aus dem 7. Jh., verbindet sich das Kreuz nicht mit dem üblichen christlichen Agnus-Dei („Lamm Gottes“), sondern mit dem wodanischen Ross, auf dessen Rücken es als himmelsdachstützende Weltsäule steht, von Sonne und Mond flankiert; unter dem Tier zwei -Runen, als Sinnzeichen für das ewige Jahr bzw. die endlose Zeit.  (W. Müller / M. Knaut, „Heiden und Christen“, 1987)
 
Abb. 10 
 
Im vorkarolingischen Türsturz von Geisenheim erscheint die markant herausgearbeitete Ing-Rune des solaren altgläubigen Gottes Ingo-Fro neben dem Haupt des noch nicht am Kreuz hängenden Christus („Sammlung Nassauischer Altertümer“, Wiesbaden). Aus merowingischer heidnisch-christlicher Übergangsphase sind etliche Grabsteine auf uns gekommen (Landesmus. Trier), die teils von Koblenz zu den Trierer Kirchhöfen St. Paulin, St, Maximin und St. Matthias verbracht wurden. Sie zeigen in schichten Ausführungen das mehrspeichige Sonnenrad von Vögeln flankiert und die Sonnenweg-Spiralen über dem Weltenberg oder der Weltsäule. Auf ihnen ist die Himmelssäule mit ihren beiden Sonnenbahnvoluten, das Sonnenradkreuz und das Kreuz als mächtig dicke Himmelsbogenstütze eingemeißelt. Wie sich Begriffs- und Heil-Runen in die christliche Zeit hinein erhielten, demonstriert der Grabstein des Priesters Badegisel in St. Alban 7.Jh. mit 5 Tyr-Runen (  ) unterhalb der Inschrift. Oder der Grabstein Munetrudis, St. Alban, Mainz 6./7. Jh. mit den 6 Sonnen-Runen ( ) oberhalb der Inschrift (Landesmus. Mainz). Das seitlich eingemauerte Tympanon des von irischen Mönchen 927 urkundlich erwähnten Kirchleins zu „Birgidesstat“, der ältesten Kirche Wiesbadens (Wi.-Bierstadt), zeigt im Mittelfeld kein echtes Kreuz, vielmehr einen spitz zulaufenden Menhir (der das Himmelszelt zu stützen scheint), dem ein Querbalken, gleich einem Fremdkörper, angefügt scheint (Abb.12). In der Bierstädter Feldflur fand man ein Weiherelief des „Deo Mercurio“ und der einheimischen Göttin „Rosmerta“, beide halten einen Heroldstab als Attribut ihrer Herrschaft in Händen. Der Grabstein eines wotangläubigen Kriegers des 6./7. Jhs. von Niederdollendorf (gefunden in Königswinter) bei Bonn, zeigt den Toten mit langem Sax und dem wodanischen Seelen-Schicksalsschlangenmotiv (Abb. 13).
 
Abb. 11
 
Abb. 12 
 
Abb. 13    Niederdollendorf_andere_Seite.JPG
 
Der Drei-Schlangen-Code wiederholt sich auf dem heid. Bildstein von Smiss im Kirchspiel När auf der schwed. Insel Gotland. Die Seelen-Doppelschlange der Wiedergeburt erscheint ebenso auf der Decke allamannischer Baumsärge von Seitingen-Oberflacht. Der Gestus des Kämmens deutet die Hoffnung auf Wiedergeburt an, denn die reinkarnative Seelenkraft sah der Heide im nach jedem Schnitt nachwachsenden Haar sichtbar verkörpert. Die Rückseite der Stele führt den Topos des germ. Speer- und Ring-Gottes Wodan vor, über dem Schicksalsgeflecht stehend. Jedes einzelne Merkmal dieser Bildsprache entspricht rein heidn. Vorstellungen und doch wird er in mancher Interpretation als „frühchristlich“ besprochen. Ähnlich der Reiterstein von Hornhausen im Harzgau, er soll Teil einer Altarschranke sein, doch der dargestellte lanzentragende Krieger, der über den Grund einer wodanischen Doppelschlangen-Chiffre reitet, steht in Tradition eines Bildmotivs wie es uns auf Runensteinen vom Skokloster und Möbro im schwed. Uppland und auf wodan-kultischen dän. Goldbrakteaten (z.B. „Nær Køge-C“) begegnet, ebenso wie auf Pressblech-Zierbildern der Brillenhelme aus skandinavischer Vendelzeit (6.-8. Jh.), auch dem Goldamulett des beginnenden 7. Jhs., einer langobardischen Grabbeigabe, die einen berittenen Krieger mit Sonnenschild und Lanze zeigt (Museo Archeologico Nazionale in Cividale). Mit der Aufzählung derartiger Beispiele könnte man noch eine Weile fortfahren. Die christliche Mission hat sich anbiedernd oft genug durch die Hintertür einer scheinheidnischen Maskerade eingeschlichen. Was am widerlichsten, weil völlig unverfroren unaufrichtig, im altsächsischen Missionstext des „Heliand“ nachvollziehbar ist, wo der samaritanische Wanderprediger Jeschua-Jesus, der nationaljüdische Reformer des Mosaismus, als germanischer Gefolgschaftsführer, als Kriegsherr, als berittener Fürst und Himmelskönig angepriesen wird. Ein unbekannter Mönch, Mitte 9. Jh., des Klosters Werden an der Ruhr schrieb die Schwindelpackung, in der biblischen Städte zu sächsischen Burgen und die Wüste Juda zum niederdeutschen Urwald verdreht werden. Auch die inneren Widersprüche sind unlösbar, einmal wird dazu aufgerufen, die Ehr- und Ruhmsucht abzutun, dann wird doch wieder auf „Nachruhm“ spekuliert. Der hoch entwickelten germanisch-sächsischen Dichtungstradition entspricht der Versstil, was anhand von Parallelen in der angelsächsischen stabreimenden Epik, sie z.B. dem Beowulf-Epos und zeitlich gleichliegender althochdeutscher Literatur (ahd. Muspilli) erkennbar wird.
 
Eine Stelle bei dem Benediktinermönch Kero (um 720), der im Kloster St. Gallen wirkte, bzw. dem Verfasser des altdt. Glossars „Abrogans“, dokumentiert den christlichen Verdrängungskampf gegen die Runenbuchstaben. Da wird den Mönchen verboten von irgendjemand etwas in Runen, „rûnstaba“, Geschriebenes anzunehmen. (W.C. Grimm, „Üb. dt. Runen“,1821, 70f) Zu rücksichtslosesten Gewalttaten gegen den Altglauben war dann der Frankenkönig Karl (768-814) bereit und militärisch befähigt. Im Jahr 772 begann er die Sachsen-Unterwerfung mit dem Sakrileg der Zerstörung ihrer heiligen „Irminsul“, einem All-Stützensinnbild. Die Zwangsbekehrungen und Massenmorde verliefen folgerichtig Hand in Hand. Die Quellen sprechen von 4.500 Abschlachtungen der Adeligen an nur einem Bluttag bei Verden an der Aller. Sein i.J. 782 erlassenes Sondergesetz („Capitulatio de partibus Saxoniae“), mit zehnmal hintereinander angedrohten Todesstrafen, verdrehten den Heimatglauben zum todeswürdigen Delikt. Das aufgezwungene altsächsische Taufgelöbnis, in altsächsischer Sprache, verlangte die totale Unterwerfung des Täuflings unter den ihm unbekannten christlich-orientalischen Gott. Die Sachsen hatten den „Teufeln“ („unholdun“) abzuschwören, die ihren germ. Gottheiten Donar, Wodan, Saxnot. („Thunaer ende Wôden ende Saxnôte [Tiu / Tyr]“) gleichgesetzt wurden. Zu diesem tragischen Prozess des Glaubensumbruches schrieben die Grimm-Brüder: „Das Christentum war nicht volksmäßig. Es kam aus der Fremde, und wollte althergebrachte einheimische Götter verdrängen, die das Land ehrte und liebte. Diese Götter und ihr Dienst hingen zusammen mit Überlieferungen, Verfassung und Gebräuchen des Volks. Ihre Namen waren in der Landessprache entsprungen und altertümlich geheiligt, Könige und Fürsten führten Stamm und Abkunft auf einzelne Götter zurück; Wälder, Berge, Seen hatten durch ihre nähe lebendige Weihe empfangen. Allem dem sollte das Volk entsagen, und was sonst als Treue und Anhänglichkeit gepriesen wird, wurde von Verkündigern des neuen Glaubens als Sünde und Verbrechen dargestellt und verfolgt. Ursprung und Sitz der heiligen Lehre waren für immer in ferne Gegenden entrückt und nur eine abgeleitete, schwächere Ehre konnte auf heimatliche Stätten übertragen werden. - Der neue Glaube erschien im Geleit einer fremden Sprache, welche die Bekehrer ihren Zöglingen überlieferten und dadurch zu einer die herabgewürdigte vaterländische Zunge in den meisten gottesdienstlichen Verrichtungen ausschließenden Priestersprache erhoben.“ („Deutsche Mythologie“, Kap. 1)
 
Schon aus dem Jahre 380 hören wir aus schriftlichen Quellen (z.B. Rhetoriklehrer Libanios) von den Klagen über mörderische, räuberische „Banden schwarz gekleideter Mönche“. Im Jahre 408 erfolgte unter Kaiser Flavius Honorius dann das Gesetz, die heidnischen Tempel zu zerstören oder in Kirchen umzuwandeln. Darum lässt sich an vielen Orten beobachten, dass unter christlichen Kirchen die Reste heidnischer Kultstätten liegen, deren vorangegangene Zerstörung erkennbar wird. Auch z.B. in Allmendingen im Kanton-Bern (Schweiz) wurden die Statuen des Tempels zerschlagen und in eine ausgehobene Grube geworfen. Die älteste Kirche dieser Region, im 5. Jh. errichtet, ist ca. 5 km vom alten Heiligtum entfernt. Zumeist stand heidnische Toleranz gegen katholische Unduldsamkeit auf verlorenem Posten. Dass fanatische christliche Tempelschänder wie Bischof „Liudger von Münster“, der auf Helgoland wütetete, zuweilen von einer aufgebrachten Bevölkerung erschlagen wurden, wie  Bischof „Vigilius von Trient“ 405 im alpenländischen Rendenatal, oder Bischof Bonifatius, der sog. „Apostel der Deutschen“, 755 bei Dokkum in Friesland, ist menschlich nur allzu verständlich, denn man sah in ihnen tollwütige „Wölfe im Heiligtum“. Welches verbrecherische Ausmaß der Glaubensumbruch letztlich annahm, spricht Eberhard Sauer aus: „Auf der Grundlage des literarischen und archäologischen Befundes kann es keinen Zweifel geben, dass die Christianisierung des Römischen Reiches und des frühmittelalterlichen Europas mit der Zerstörung von Kunstwerken einherging in einer Größenordnung, die man in der Geschichte der Menschheit nie zuvor sah.“ („The archaeology of religious hatred in the Roman and early medieval world”, 2003, S. 157) Unser zunehmendes Wissen um die bei lebendigem Leibe zerschnittenen, erschlagenen heidnischen Philosophen und Priester, wie die Mathematikerin „Hypatia von Alexandria“ (355-416), oder der namenlose, lebendig Begrabene im Mithrastempel von Saarburg in Lothringen und der Gepfählte vom Mithrastempel an der schweizer „Via-Mala“, lassen eine grausliche Seite der Geschichte heraufdämmern, die auch von den krampfhaft kolportierten, seichten kirchlichen Märthyrerlegendchen lange genug verschüttet wurde.