3.3 - Silbe OD - das Runen-Haupt
Dreimal, im altheiligen Sonnen-Zahlsinn also, erscheint die urehrwürdige Zahl 108 (QS 9 = s = sol / sowilo = Sonne) im bronzezeitl. Kunstwerk des Trundholmer Sonnenwagens. In welcher Form sie dort auftritt und welche hohe Bedeutung sie auch in anderen indogerm. beeinflussten Religionen besitzt, soll später beschrieben werden. (vgl. Tür 5.1). Die gesamte Runensprache-Runenschrift basiert auf dieser heiligen Zahl: Unsere urgerman. ODING-Buchstabenreihe umfasst 6 Selbstlaute sowie 18 Mitlaute. Die Lautwerte der Konsonantenzeichen sind d, ng (als Endlaut) l, m, b, t, s, z (als Endlaut), p, j, n, h, w, g, k, r, th, f. Als Vokalzeichen sind vorhanden: o, e, ei (Laut zwischen e und i), i, a, u. Kombiniert man die 6 Vokale (Urlaute) jeweils mit einem der 18 Konsonanten (Mitlaute), dann werden 6x18 = 108 Grundstammsilben geschaffen, aus denen sich im runentheoretischen Sinne die germ. Sprache entfaltet hat. Die erste Silbe OD die man als Urgrundstammsilbe bezeichnen kann, entsteht durch Verbindung des 1. Urlauts „o“ mit dem 1. Mitlaut „d“. Aus diesem „Kopf“ der gesamten Runensprache „erwachsen“ alle weiteren, insgesamt 108 Silbenlautungen, die im folgenden der Reihe nach aufgezeigt werden:
od ong ol om ob ot os oz op oj on oh ow og ok or oð of
ed eng el em eb et es ez ep ej en eh ew eg ek er eð ef
eid eing eil eim eib eit eis eiz eip eij ein eih eiw eig eik eir eið eif
id ing il im ib it is iz ip ij in ih iw ig ik ir ið if
ad ang al am ab at as az ap aj an ah aw ag ak ar að af
ud ung ul um ub ut us uz up uj un uh uw ug uk ur uð uf
Der gefeierte altgriech. Kult-Lyriker Pindar (522-446 v.0) galt schon zu seinen Lebzeiten als einer der Bedeutendsten. Seine schöngeistigen Siegeslieder, mit denen er Herrscher und Helden der Wettkämpfe ehrte, bedienen sich der rühmlichen Themen von Göttern und mythischen Heroen in feierlich-erhabener, traditionell dorisch geprägter Sprache. Für ihn und das altgriechische Denken war es so, dass in der Tüchtigkeit und allem Großen, Erhabenen und Schönen dieser Welt das Göttliche aufleuchtet und in Erscheinung tritt. (Uvo Hölscher, Pindar Siegeslieder - Olympische Oden“, 1962, S. 190) Diese antike Betrachtungsweise hatte ganz natürlich lange vor und nach Pinda ihre empfundene Berechtigung in den Köpfen der Menschen. Gleiche Beurteilung erfuhren die Schriftsysteme - der anatolisch-vorderasiatisch-ägyptischen, der griechisch-lateinischen Buchstaben und der germanischen Runen -, das waren anerkanntermaßen gewaltige schöpferische Leistungen, in denen scheinbar übermenschlich-göttliche Erleuchtungen zu Tage traten. So ist auch mit Sicherheit das 24-stabige Oding-Fuðark als ein göttlich ins Werk gesetztes Phänomen betrachtet worden.
Andere Schulen gingen damals von den 24 Buchstaben des griech. Alphabetes aus; der Runensystemschöpfer wählte die gleiche Anzahl. In seiner ODING-Ordnung gab er die Symbolziffer 21 dem Ahnengeist Wodan-Wodin-Odin, dem Asen (). Der sollte als immanente Wirkkraft seiner Weltschöpfung in Erscheinung treten. Der Runenkreis stellt diese Aussage in der einzig möglichen zahlenmythologischen Weise dar: Die arithmetische Summe von 21 beträgt 231. Diese drei ersten Zahlen versinnbildlichen die Urschöpfung und ergeben in ihrer Quersumme 6, wie auch die Gesamtheit der 24 geistigen Runen-Weltbausteine in ihrer Quersumme 6 erzielen (2+4=6), jene Ziffer, die die Raumtotale des Kosmos vertritt. Der germanische Asengott Wodan galt demnach als Teilwesenheit und weltbewirkende Werdekraft des Alls, auch und im Besonderen des Menschen, was durch die zahlenmäßige Gleichwertigkeit des Gottesnamens und des Menschenbegriffes - nach ODING‘scher Gematrie - unterstrichen wird. Der Urmensch (Mannaz: ) und der Geistgott (Wodanaz: ) weisen den übereinstimmenden Zahlenwert 87 auf, der sich in der Kernsumme wieder zu 15 (8+7=15) und zu 6 (1+5=6), also der Allzahl reduziert.
Abschließend heißt es im Jezira: „und so ergibt sich denn, dass alles Erschaffene und alles Gesprochene aus einem Namen hervorgeht.“ (Aryeh Kaplan, Sefer Jezira, Rita Ruther Verlag, 1994) Dass mit diesem Namen, aus dem alles erwächst, der Name Gottes gemeint ist, liegt auf der Hand. Die Weltwerdeziffer 231 stellt ja nichts anderes dar als die ersten drei Zahlen und ebenso die ersten drei Runen, nämlich: O-D-ING. Im späteren Jezira-Schöpfungsbuch finden wir also die runischen Grundgedanken ausgesprochen: die kreisförmige Anordnung sowie das Hervorfließen der schöpferischen Buchstaben aus dem Gottesnamen, der ihr Haupt, ihr Uranfang ist. Aus den Worten, den Runen-Buchstaben, wurden die Werke der Schöpfung, aus geistig ergriffenen-begriffenen Vorstrukturen (Runen) wurde die Dinglichkeit des Seienden.
Jene Urgrundstammsilbe = OD, die aus buchstaben-gnostischer Sicht identisch mit Gott sein müsste, ist es nach germ. Sprachwirklichkeiten tatsächlich -, sie stellt die Kernsilbe des Gottesbegriffes dar: wodanaz, wodinaz / wodan, wodin, woden / wod; altsächs. god, niederdt.-mundartlich bis heute / altn. oð, oðr, oðinn -, durch seit Beginn des 6. Jh. erfolgten späturnord. Schwund des anlautenden „w“ vor den dunklen Vokalen: „o“ und „u“. In altgerm. Zeit, als die Eingeweihten die 24-er ODING-Runenordnung benutzten, wurden die Namen des Seelengottes-Weltgeistes, des göttlichen Allumfassers-Göttervaters mit der Silbe „od“ geschrieben. Es schwanken ohnehin im Germ. d (), ð (), t (); erst im Verlauf des Mittelalters wandelte sich unregelmäßig germ. „d“ () in altnord. „th“ (). Dies bezeugen eine Reihe von Funden: Spange von Værløsa/Dänemark (ca. 2. Jh.): alugod + Hakenkreuzzeichen (alugod = „Zaubergott“); Fibel von Gårdløsa/Dänemark (ca. um 200): ekunwodt = ekunwod[i?], „Ich Unerregter / Unverständiger“; Runenstein von Tune/Schwed. (ca. 400 n.0): woduri („Geistreiter / Wodansritter / Wodanspriester“); Bügelfibel von Nordendorf/Deutschl. (ca. Mitte 6.Jh.): wodan („Wodan“). Dieser Gottesname ist als Wodin in urnord. Schreibung, noch mit anlautendem „w“ um 400 n.0 in Südostnorwegen nachweisbar. (Detlev Elmers, Zur Ikonographie nord. Goldbrakteaten, 1972, S. 214) Die Anlautformen auf „w“ oder „g“ sind sekundär, die Kernsilbe des germ. Wortes wod-god ahd. got, nhd. Gott war „od“. Gott ist: od- Od ! Diese Grundform wurde nie ganz vergessen; noch die Edda-Schriften kennen den Gott altn. Óð / Óðr, der mit Oðin als nicht identisch gilt. Der älteste Gesang des Nordens, die Völuspá (25), erwähnt „Óðs mey“ d.h. „Óðs Braut“, nämlich die ältere als Frigga, die gemeingerm. Göttin Freyja-Frija (Gylf. 34 u. Skalds. 20 + 35). Also muss Gott-Óð der ältere sein. Jan de Vries sagt richtig: Óðr ist eine alte Gottheit, aus ihm ist Óðinn hervorgegangen. (Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, 1957, S. 87)
Um den Verständnisinhalt des Gottesbegriffes „Ōd-Óð“ erahnen zu können, könnte vielleicht die Inaugenscheinnahme von Wortformentrümmern hilfreich sein: ahd. odmütig = demütig, Oding = Steuergesetz, Oding = Kultstätte, altn. óðr = „Geist, Gemütserregung / Dichtkunst“, óðrœrir = „Begeisterer / Rauschtrank / Dichtermet“, got. woðs = „erregt / besessen / wütend“, mhd. wuot = „Wut“, wuotgüssine = „heftige Wassergüsse / Wolkenbruch“, altn. oeðiveðr = „gewaltiger Wind“, norw. u. schwed. dial. oden = „brünstig“, ode m. = „Brunst“, oda f. = „Brunst / Lebensmut / Hitzigkeit“, mndl. woeden = „heftig begehren, in Liebe brennen, rasen, wahnsinnig sein“, neunorw. od = „Raserei / Unwetter“, ? óðal- = „von freier, edler Geburt“, óðal = „Stammgut / Heimat / Vaterland“, altn. oddr = „Spitze, Pfeilspitze“, oddur = Speer (dichterich), øðli = „edel“, mōðir = „Stamm-Mutter“; ags. œðel = „Heimat“, ōðian = „atmen“, met-od = „Maß / Messender / Schicksal“; germ. witod, got. witōð, ahd./mhd. wizzod = „heiliges Gesetz / Sakrament“, mhd. alōd = „freier Besitz“, uodal = „Heimat“, ādum = „Atem“; ostmd. odem = „Atem“, mhd. ode-bar = „Seelen-Kinderbringer, Storch“, kleinôt, kleinœde = „kleines hochwertiges Gut“. Anmerkung: aus idg. „ā“ konnte gemeingerm. „ō“, ahd. „uo“, altn. „ó“, dt. „u“ werden; z.B. ai. ātma = „Seele / Hauch / Geist“, altengl. ōðian, altn. óð = „Sinn / Geist / Verstand / Gemüt“, aber önd = „Atem / Seele / Geist / Anfang“, ahd. ādum / ātum, dt. Atem-Odem = „Hauch-Lebensluft“. (Hermann Hirt, Handbuch des Urgermanischen, 1931)
Völuspá (18,4) schildert, wie die nordische Göttertrias die Verlebendigung des ersten Menschenpaares vornimmt: „önd gaf Oðinn, óð gaf Hœnir“ d.h. „Sinn gab Odin, Seele, gab Hönir“. Odin schenkt Geist, Verstand, eine seiner Hypostasen Hönir, gibt die Seele. Wie wären auch Sinn und Seele zu scheiden? Dazu schreibt der Isländer Sigurdur Nordal: „önd, óðr: Hier wird eine Unterscheidung gemacht zwischen dem Lebensodem und der Seele. önd bestimmt die Lebensfunktionen, ist Teil des Lebens und ist Mensch wie Tier gemeinsam. óðr ist der ,göttliche Funke‘ im Menschen, der auf höhere Mächte zurückgeht.“ (Sigurdur Nordal, Völuspa, 1980, S. 48) Wir sind sicher: Der altgerm. Od-Gott der ODING-Epoche, kann nicht sehr viel anders verstanden worden sein, als der hochmittelalterlichen Óð-Gott der Edda-Zeit, als Geber, als Inkarnation von Geist und Seele. Er ist der Gott jeglicher seelischen Erregung: Sturmgott und Erntegott, Kriegsgott, Runengott, Totengott und Herr der Dichtkunst, der Liebesbrunst, aber auch des Zaubers, der Tücke, der Maskeraden, der menschlichen Hingabe, ekstatischer Menschen und der Menschenopfer. Kein Betrachter darf dabei übersehen, dass Gottesseele und Menschenselbst immer ineinander aufgehend und verwoben betrachtet wurden. Der arioind. Atman ist Seelengeber-Gott und Menschen-Seele selbst. Ebenso wie es noch ein griech. Zauberpapyrus des 5. Jh. ausdrückt: „Erhöre mich, Hermes [...] denn ich bin du und du bist ich, dein Name ist der meinige [...] Denn ich bin dein Abbild.“ (Karl Preisendanz, Die griech. Zauberpapyri, Bd. 2, 1928-31, S. 46f u. 123) Zwar ist Od der Gottesname, der den germ. Volksglauben begründet in der Höhe des Alls und in der Tiefe des Seins, doch es sei daran erinnert: „Götter sind seelische Mächte und daher nie einseitig bestimmt und im Grunde nur dem Erleben, nicht dem Begreifen zugänglich. Ihre Eigenart kann sich im Namen spiegeln und tut es zumeist, doch liegt sie nie im Wortbegriff, sondern im ganzen Umfang der Wortbedeutung. Nie wird es darum gelingen, von einer Seite oder einem Endbegriff aus ihr Wesen zu fassen." (Martin Ninck, Wodan und der germanische Schicksalsglaube, 1935, S. 32) Trotzdem müsste es mit dieser Erkenntnis vom zentralen Od-Gott gelingen, die in den Buchstaben, Zahlen und Wörtern der Runen eingeschlossenen Geister freizumachen.
3.4 - Die Lautung „ODING“
„Der Lautwert der Rune war, jedenfalls ursprünglich, nicht einfacher velarer Nasal, sondern ng bzw. ing." Da die Runenritzer der „ng"-Rune keineswegs grundsätzlich dort ein „i" voranstellten wo es lautlich wohl nötig gewesen wäre, dürfen für die -Rune Lautwerte „ing" sowohl wie „ng" angenommen werden. (Gerhard Alexander, Die Herkunft der Ing-Rune, in Zeitschr. f. dt. Altert. u. dt. Literatur, Herausgeber Kurt Ruh, Bd.104, 1975, S. 1f)
3.5 - Symbolik der 6 Urlaute
Unsere urgerm. Buchstabenordnung des ODING-FUÞARK umfasst die 6 Urlaute/Vokalzeichen in Folge: , , , , , für o, e, ei, i, a, u, sowie 3x6 = 18 Mitlaute/Konsonanten. Dagegen besitzt das heute gebräuchliche, aus dem Lateinischen entlehnte ABC nur 5 Vokal-, aber 21 Konsonantenzeichen. Man könnte die Vokale auch als Kern- oder Seelenlaute bezeichnen, denn sie stellen das Grundgerüst der Sprache dar, auf welchem aufbauend sich der gesamte Sprachleib entwickelt hat. Es handelt sich dabei um Lautungen, die anlässlich bestimmter Eindrücke und Empfindungen aus tiefster menschlicher Wesensart hervorbrechen:
Wenn uns etwas hoch und hold vorkommt, loben wir: „o !“
Wenn Ehre oder Ehrlichkeit verletzt werden, sprechen wir: „e !“
Wenn uns etwas heiter und fein erscheint, meinen wir: „e (ei) !“
Wenn uns eine fiese Spinne anwidert, schrillen wir: „i !“
Wenn wir uns am saftigen Braten laben, wohllauten wir: „a !“
Wenn es uns im Dunkeln gruselt, murmeln wir: „u !“
Es scheint nachweisbar, dass sich die Stimmungs-Charaktere dieser 6 altgerm.-runischen Urlaute bis in unsere Tage kaum wesentlich verändert haben; wir Heutigen verspüren offensichtlich noch die gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Gefühle beim Klang der Urlaute wie unsere germ. Vorfahren. Eine ernstzunehmende, umfassende Sprachuntersuchung mit dem Ziel, eine germ.-indogerm. Urlaut-Wortstammlehre darzustellen, liegt noch nicht vor. Es muss eingeräumt werden, dass es schier unmöglich erscheint, Sicherheit zu gewinnen, angesichts des uns verfügbaren mangelhaften Wortschatzes. Doch einstiges Urlaut-Verständnis blieb überliefert und ist erfahrbar zu machen aus den bereits genannten Identifizierungskriterien der ODING-Runen.
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Der erste Urlaut, das „o“ = galt der Antike als Laut, mit dem die „kleine“, die menschliche Seele die „große“, die göttliche Weltseele um Anhörung oder Hilfe anruft. Das „o“, so heißt es in der Musiktherapie, lässt den Bauch vom Nabel bis zum Brustbein und nach hinten zur Wirbelsäule zum Schwingen kommen. Ein „o“ erklingt als Ruf des Erstaunens, der Überraschung oder des Erschreckens, wenn unsere Seele durch Betroffenheit in Wallung gerät. Im Germanischen ist das „o“ der Zentrallaut des Wortes für god = „Gott“. So ist es nur allzu verständlich, dass die „o“-Rune sowohl die erste Rune im ODING überhaupt und mithin der erste Selbstlaut des germ. Buchstabensystems sein muss. Im kosmischen Jahresbeginn zur Wintersonnwende-Mütternacht, befindet sich ihr Kalenderplatz. Sie ist in den Schwarz- bzw. Neumond gelegt, der nach Vorstellungen des Sympathiezaubers mit dem Gewinn eigener Fülle seine vermehrende Wirkung auf alles, was über der Erde wächst, auslöst. Das dazu passende Sternbild ist der kraftstrotzende „Steinbock“, das aufwärtsstrebende Klettertier. Der zugehörige Runenbegriff lautet oðala = „Heimaterde-Artbesitz“. Aus gottgegebener Heimaterde erwuchs und erhält sich die gottesteilhaftige Mutterseele des Volkes, aus der jedem Einzelnen Heil und Halt zuströmen mag - so war es Gewissheit der Ahnen. Noch heute, wenn uns ein bewunderndes, frohes, hochschätzendes „o“ entfährt, loben wir gefühlsmäßig richtig das Vollendete, Wohlgeratene, Großartige. Das „o“ als Laut für das ethisch und ästhetisch Obere und den Beginn, vermag sich zu zeigen in Worten wie: lat. origo = „Ursprung, Abstammung, Herkunft“; altn. oddr = Spitze, óðr = „Geist“, önd = „Atem, Anfang, Ursprung“, óss = „Flussmündung“, orðigr = „hoch / aufrecht“; altsächs. u. aengl. ord und ahd. ort = „Spitze, Quelle, Anfang“; aind. oštha = „Lippe“.
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Der zweite Urlaut ist das „e“ = , das an 6. ODING-Runen-Stelle postiert ist, also durch die „vollkommene Sechszahl“ geadelt wurde. In der Musiktherapie heißt es, das „e“ öffne den Brustraum an den Flanken seitlich zur Welt hin. Der dazugehörende Runenbegriff heißt ehwaz = „Gottesross“. Sein Kalenderort befindet sich im Vollmondstand Februarende-Märzanfang zum antiken heliakischen Aufgang des Sternenpferdes „Pegasos“ und ebenso der Festzeit des indoarischen Rossopfers. Der Hengst war den Alten ein mehrschichtiges, heiliges Sinnbild, u.a. auch für den Volkskönig bzw. das Gottesstellvertretertum auf Erden, also für die gottgegebene Weltordnung. Es scheint, als ob wir die „e“-Begriffe altind. ēvas = „Gang / Sitte“. altsächs. êo, ahd. die êwa = „Gesetz / Recht“ (êwart, êsago = Gesetzeswart und -sprecher) für die göttlichen Regeln, ebenso darzustellen dürfen wie das Personalpronomen germ. ek = „ich“, als Begriff für das menschliche Selbst, das in diese sinnreichen Fügungen hineingestellt und eingebunden ist, ebenso wie era („Ehre“) und eht („Besitz“). Wenn wir uns ungerecht, unehrenhaft, unehrlich behandelt fühlen und dann zuweilen aus seelischem Urerinnern „e“ sagen, wollen wir dann nicht an Recht und Redlichkeit gemahnen, so etwa: „eh, he - nimm dich zusammen, das ist zu wild, zu wüst, so geht es nicht!“?
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Der dritte Urlaut „ë“ war ein Laut zwischen „e“ und „i“, dem „ei“ nahestehend. Die stellvertretende Rune trägt den Begriff eihwaz = „Eibe“, der immergrüne Lebens-, Todes- und Weltenbaum; dieses Sinnbild wird von der Zahl 12 vielsagend ergänzt. Die 12 galt als die volle Rundzahl auch des Himmelskreises mit seinen 12 Sternbildfeldern, in welche der symbolisch gedachte Weltenbaum hineinragt. Zur 12 gelangt man aber auch über die Multiplikation 3 x 4 bzw. Feuer x Wasser (Männliches x Weibliches). Die geglückte Verbindung von Gegensätzen wird hier demonstriert; dafür wirbt auch das Sternbild „Zwilling“ der „ungleichen Brüder“. So ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere der „ei“-Laut manchen Widerspruch in sich birgt. Die Eibenbaum-Chiffre nimmt im ODING-Runenkalender den Zeitraum Mai-Ende/Juni-Anfang ein (zum vollen Mond), in dem es noch heute Volksbrauch ist, den Maibaum als Lebensbaumgleichnis zu errichten; handelt es sich doch um die Jahresspanne, in der Sonnenlicht und Naturleben wieder voll erblüht sind - wahrlich heitere, von Dunkelheit befreite, gereinigte, heilvolle, feierliche Mondläufe, in denen Freudenrufe wie: „ei wie fein“, „hei“, „heißa“, „juchhei“, „bin frei“, „einerlei“ menschlicher Brust entfahren möchten.
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Der vierte Urlaut ist das „i“ = imit dem dazugehörenden Begriff isaz = „Eis“, bei dem uns Begleitgedanken wie „kaltmachen“, „eisiges Schweigen“, „Eisesnot und Kältetod“ in den Sinn kommen. Die Runenzahl 14 ist sicherlich mit Bedacht gewählt, denn es sind nach altem Mythos 2 x 7 = 14 unholde Geister aus Luft und Meerestiefen, welche weder Gnade noch Mitleid kennen und die Weltübel verursachen. Im Juni-Ende droht dieser Runenlaut, zu Beginn der wieder abnehmenden Tageslängen. Der Jahresgott scheint einen halben Mondlauf nach Jahreshöhepunkt und -wende verwundet; das Licht geht seinen Abwärtsgang ins Wintergrab hinunter. Die dem „i“ gehörende Mondgestalt ist der Vollmond, welcher - gemeinsam mit dem Sternzeichen „Krebs“ - Schwund und Rückwärtsgang ankündigt. Das Singen von reinen Vokalen hat in der Musiktherapie folgende öffnende Wirkung: Das „i“ öffnet den Kopf. Das „i“, im Zeitraum des höchsten Jahresstandes, ist auch der höchste, spitzeste Laut, der den stärksten Gegensatz zum breiten, lebenerhaltenden Atemlaut „a“ bildet. Die Lippen werden zurückgezogen und liegen dicht an den Zähnen, der Luftstrom schießt zielstrebig und nachdrücklich hinaus. Es ist der einzige Laut, bei dem wir der Welt die „Zähne zeigen“, ebenso wie beim Gefühl des Ekels und der Feindseligkeit. Die Stiche von des Igels Pieken oder der Biss einer Spinne können uns zu Schmerzensrufen wie „pfui“, „igitt“, „fies“, „so ein Biest!“ veranlassen. Es scheint, dass die „i“-Rune kaum treffsicherer in die runische Begriffs-, Zahlen- und Kalenderfolge hätte eingeordnet werden können.
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Der fünfte Urlaut ist das „a“ = des Runenwortes „anse / ase“. Es handelt sich um den Kultnamen des germ. Seelen- und Geistgottes Wodan-Wodin-Odin. Das „a“ gilt in der Musiktherapie als der „umfassende Ganzraum“, dessen Zentrum in der „Mitte" entsteht und als tiefgreifende Kraft erfahren wird. Im Osten gilt „A“ als Urlaut göttlicher Natur, d.h. als Urlaut, der Leben erschafft. Der Ase ist Schicksalsherr einer höheren Gerechtigkeit, er hält das Sternbild „Waage“ über seine Zeit (aber als Totengott ragt er schon hinein in den nachfolgenden „Skorpion“-Aspekt). Er ist es, der das „Auf und Ab“ der Waagschalen bestimmt. Die dazugehörige Zahl 21 mit Quersumme 3 gilt als die „Meisterzahl“ und geistige Weltallzahl (3 x 7), d.h. der „vergeistigten Welt“ oder der „Welt der Geister“. Auf Mitte Oktober fällt dieses Sinnbild, in die Zeit der Ahnengeister- und Seelenfeste, wenn die äußeren, stofflichen Lebenskräfte abnehmen und in gleichem Maße die unsichtbaren Wirkkräfte an Macht gewinnen. Der aus engster Mundstellung entstehende spitze, feindselig anmutende „i“-Laut steht der vollmundigen „a“-Lautung am deutlichsten entgegen. Der Ase, der Atemwindgott Wodin, will die Weltbeatmung bewirken; dies vermag er nur mit der weitesten Mundöffnung des Urlautes „a“. Mit diesem geöffneten Beatmungsmund ist der Ase Wodin-Odin auch auf den Goldbrakteatenbildchen des germ. Mittelalters portraitiert. So ist das „a“ als Mundaufmacher der einzige Laut, welcher befähigt ist, die Verlebendigung in Gestalt des ersten und aller weiteren menschlichen Atemzüge zu symbolisieren. Die Begriffe altind. asu = „Lebenshauch / -kraft'“ und atman = „Atem / Selbst / Seele“, griech. atmós = „Dampf, Dunst“ (Atmosphäre = Dunstkreis der Erde), lat. -anima = „Lufthauch, Atem, Seele“, got. ana = „Atem“ und ansts = „Gunst“, altsächs. aðom, ahd. atum = „Seele / Hauch / Geist“; bieten sich an, in den Zusammenhang mit der Lebenshauchrune „a“ und dem Asen Wodin-Odin gestellt zu werden.
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Der sechste Urlaut ist das „u“ = , dem das Wort uruz = „Urstier“ zugeordnet wurde, das alte, weithin verstandene Sinnbild der Himmelsgottheit/Naturkraft. Die Runenhieroglyphe zeigt das Stierhaupt mit nach unten gewendeten Hörnerspitzen. Was damit versinnbildlicht wird, ist das Taurobolium, das Gottesopfer im November, dem Opfer- und Todesmonat im alten Jahresverständnis. Die zugehörige Runenzahl 23, mit Quersumme 5, wurde in der Antike auch als Opferzahl begriffen. Dies Gottes-/ Naturopfer soll ja kommendes Wachstum, frisches Gedeihen bewirken; ihm entquillt künftiger Jahressegen. Aus dem „Zu-Grunde-Gehen“ entsteht das Neue, so lautet irdische Erfahrungsweisheit. In die Tiefe des Jahres ist die „u“-Rune und ihr Symbolismus gestellt - sie weist den Weg in die Wurzelbereiche des Seins, zu den Brunnen in die Urgründe der Mütternächte. In der Musiktherapie wird gelehrt, das „u“ aktiviert die Schwingung des Beckens und lässt Ruhe und basale Tragkraft wachsen. So wie der „u“-Buchstabe die Mundhöhle zum Schlund verengt, in dessen Grube drunten die Lautungen gemurmelt, gemurrt, gesummt, geraunt, getuschelt werden, so spielt sich im Grunde des verengten, lichtarmen Jahres das unheimliche, ungreifbare, dustere Grauen des Gottesopfers im Naturgeschehen ab. Wir erkennen, dass der dunkle Urlaut, das runische „u“, in seinem Verständnis-Gesamtumfang sowohl das Unten, das „Un-“ der Verneinung, das Unglückliche, Unholde, Ungeheure, das Unheil des Unterganges - aber auch die Ursache für den Umschwung und die Umlenkung zur neuen, vom Zeitkreis bedingten kosmologischen Ordnung des Runen-„o“ am Ort ( = „an der Spitze“), dem Obigen, der runischen Gottes-Offenbarung, bedeutet. Und da „Rune“ nichts anderes als „Geheimnis“ heißt, erzeigt sich dieser „u“-vokalige Begriff selbst als das heilige Geheimnis aus den Urtiefen der Zeit. Und noch der erst aus dem späten Hochmittelalter auf uns gekommene heidnische Mythos der Runen(er)findung durch den germanischen Geist-Seelengott Odin-Wodin führt ein ur- und „u“-runisches Geschehen vor unser geistiges Auge. In den Edda-Strophen von der Selbstopferung Odins (Havamál 130, 139, 141) werden der Gottheit selbst die hochberühmten Worte in den Mund gelegt:
„Ich weiß, dass ich hing am himmlischen Baum 2
neun ganze Nächte,
gerverwundet und dem Odin geschenkt,
ich selbst mir selbst,
am Weltenbaum, von dem keiner weiß,
aus welchen Wurzeln er wurde.
Nicht Brot beglückte mich, auch kein Trinkhorn,
nieder spähte ich,
nahm auf die Runen, nahm sie schreiend,
rückwärts fiel ich von dort.
Trost und Kenntnisreichtum gewann mein Dasein,
auch Wachstum und wohlgeratene Ordnung,
Wort mich von Wort zu Wort wies,
Werk mich von Werk zu Werk wies.“
Wodan-Odin muss 9 „Nächte“ (Monde/Monate) hängen, bis zur Todesreife, um die Früchte seiner Initiation zu realisieren. Dazu schreibt ein bedeutender Kenner: „Odin, der göttliche Myste einer Initiation, erlebte seinen ,Tod’ und seine ,Wiedergeburt' zugleich als makrokosmisches Sterben und Werden, dessen sichtbare Gestalt der veränderliche Mond ist.“ (Heinz Klingenberg, Festschrift Siegfried Gutenbrunner zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1972, S. 135) Aber halten wir das schaurig-erhabene Bild des Havamál-Dichters fest, es sagt noch mehr: So wie der lebenbewirkende Tau aus dem Monde fällt, so fielen aus Wodins Brust die Blutstropfen seiner Speerverwundung um „niederfallend“ (auch in den Köpfen seiner Menschenkinder) als geistlebenschaffende Runen zu erblühen.
Der „u“-Runenlaut udes Gottesopfers steht in einer Schwarzmondphase des November. Am Sternenhimmel droht der Todesstachel des erstarkten „Skorpion“. Die zeitweisenden Gestirne, Sonne und Mond, befinden sich also im kraftlosen Grunde ihrer Lichtmacht, aus der im Fortschreiten nur wieder ein Wachsen und Gedeihen zu erhoffen ist. Wodin-Odins Gotteswesenheit spiegelte sich gemäß den altgerm. Naturreligiös-begrifflichen Anschauungen sicherlich nicht nur in den beiden großen Himmelslichtern, vielmehr wurde sie als Wirkkraft verstanden, welche unsichtbar hinter der Gesamtheit der Erscheinungswelten pulsiert. Wir erkennen, wie eng die Selbstlautfolge im Buchstabensystem des ODING-FUÞARK mit dem germanischen Jahresgott-Mythos vom „Vergehen und Wiedererstehen“ verwoben ist. Der verwundete Gott schaut hinunter aus seiner Weltenbaumhöhe und sucht bei den Wurzeln des Seins die Runen, die Ur-ldeenmuster der Urschöpfung, welche den Bausteinen gleich sind, die für jede neue Jahreserschaffung gesucht und genutzt werden müssen. Von „Wort zu Wort“ seiner Gedankenfolge findet der göttliche Baumeister zum „Werk um Werk“ seiner schöpferischen Tatenfolge. Über das Opfer der „Selbsterniedrigung“, dem Eingehen in die stoffliche Welt, schafft Wodan-Odin die neuen Strukturen materieller Dinge. Nach Aufnahme der Plangedanken - der Runen - „fällt“ er in die Schöpfung, sich selbst wiederum erste Urlaut-Rune der Welt- und Jahreswerdung ein Schlingen- und Seelenzeichen sein: = o.
Vereinfachtes (idealisiertes) Schema des urgermanischen Sonnen-Mondjahres mit den 12 Mondläufen bzw. 24 Schwarz- und Vollmondstellungen innerhalb eines Sonnenlaufes. - So wie die Runen-Systemzahl 6 ist, denn 24 (2+4=6) reduziert sich zur QS (Quersumme) 6, so gelangt man bei der Systemzahlen-Addition der 6 runischen Urlaute ebenfals auf die Zahl 6: 1+6+12+14+21+23=77>7+7=14>1+4=5>Aufsummierung von 5>1+2+3+4+5=15>1+5=6.
Als Hauptergebnis dieser Untersuchung erscheint jene Erkenntnis, dass die 6 Urlaute geradeso wie ein zusammengehörendes einheitliches „Kerngehäuse“ dieselbe jahresmythologische Aussage abgeben wie die gesamte große geistige „Runenfrucht“ von 24 Zeichen (mit QS 6). Bei Addition der Urlaut-Zahlen (o 1, e 6, ei 12, i 14, a 21, u 23) ergibt sich QS 5 bzw. die Vollkommenheitszahl 5/6 (vgl.Tür 2, „die 5“). Die 6 Urlaute sind so über den Jahreskreis hingeordnet, dass ihr lautlich-mythischer Charakter mit der Zeitspanne, die sie vertreten, bestens harmoniert: 1. Urlaut () „o“ im natürlichen Jahresbeginn der Wintersonnenwende; 2. Urlaut () „e“ im Frühlingsbeginn (Anfang der Wachstumsphase); 3. Urlaut () „ë“ im Lichthöhepunkt, einen halben Mondlauf vor der SSW; 4. Urlaut () „i“ im Lichthöhepunkt, einen halben Mondlauf nach der Sommersonnenwende (Lichtabstiegsbeginn); 5. Urlaut () „a“ im Jahresbereich der Ahnenseelenfeste; 6. Urlaut () „u“ im Beginn des tiefsten Sonnenstandes, also des kleinsten Sonnenlaufbogens.
So unglaublich diese stimmigen Urlaut-Einfügungen in die runische Buchstaben- und Kalenderreihe auch sein mögen, durch einen „Meister Zufall“ sind sie ebensowenig zu erklären wie die Gesetzmäßigkeit, dass die hellen Laute „e“, „ë“, „i“ auf Vollmonden zu liegen kommen und die drei dunklen „a“, „u“, „o“ auf Dunkelmondzeiten. Mit vorstehender Zusammenschau ist ein weiterer Beweis erbracht für die ODINGsche Erkenntnistheorie, die altgerm. Runenreihe als planvolles mythisch-kosmologisches und letztlich kosmotheistisches Netzwerk zu begreifen. Der gleichlautende Anspruch wird auch von Erklärern anderer Buchstabensysteme erhoben, doch fällt es denen schwer, auch nur annähernd eine derart vollkommene innere Geschlossenheit des Aufbaus nachzuweisen, wie es das germ. ODING-FUÞARK offenbart.
2 (In Anmerkungsverzeichnis) altn. „vindgameiði“ = „dem Winde ausgesetzter Baum“; sinnvoller: altn. meiðr = Weltenbaum und altn. vind = „Wind / Sturm“, aber auch in Zusammensetzungen „Himmel“. Deshalb vindmeiðr = „Himmelsbaum“ (!); vindgameiði = „himmlischer Baum“
3.6- Weltwerdung - die Urstoff-Folge
Wenn es richtig ist, dass das Runen-ODING ein antikes (theosophisch-gnostisches) gottesweisheitliches Erkenntnissystem darstellt, dann müssten aus seiner Kreisgestalt die verschlüsselten Grundgedanken der Weltentstehung, des Weltbaues und des Weltgeschehens so gut herauslesbar sein, wie sie hineingeschrieben wurden. Die alten Weisheitslehrer versuchten die Werdung der vielgestaltig-wechselhaften Erscheinungsgesamtheit aus einem Urstoff (oder mehreren) zu begreifen, denn wenn etwas entstehen soll, so müssen als Ursprung der Dinge gewisse Baumaterialien, Ur-Sachen (griech. Elemente) vorausgesetzt werden. Diese nannten die Griechen (Demokrit, 460-370 v.0) bereits „Buchstaben des Alls“. Elemente und Buchstaben aber wurden durch dasselbe Wort „Stoicheion“ bezeichnet.
Schon die thrakisch-griech. Orphiker des 6. Jh.v.0, später auch die Stoiker, hatten die Götterpaare der Theogonien in Naturkräfte und Elemente umgedeutet, von denen immer eines aus dem anderen hervorgeht. Insbesondere Empedokles von Agrigent (490-430 v.0) lehrte, dass alles Materielle aus 4 Elementen, den „Wurzeln der Dinge", erwachsen sei und diese gewissen Gotteskräften/Gottheiten zuzurechnen wären. Der Pythagoreer Philolaos (Ende 5. Jh. v.0) unterschied schon 5 Elemente: Erde, Wasser, Luft, Feuer, Äther. Er versuchte ihre Unterschiede als rein geometrische zu begreifen, indem er das Körperliche als ein Gewebe aus unsichtbar kleinen Partikelchen (Polyedern) auffasste. Aus Kuben bestünde die Erde, aus lkosaedern das Wasser, aus Oktaedern die Luft und aus Dodekaedern der Äther. Platon (427-347 v.0) folgte dieser Elemententheorie, insbesondere griff er die Idee vom 5. Urstoff auf dem Äther (belebender göttl. Welt-Seelenstoff). Dass er aber die wahre Ursache der Welt in der Vernunft und den Ideen der Gottheit erkannte, steht außer Zweifel. Besonders stolz war er darauf, sich für den ersten halten zu dürfen, der den Gedanken verfolgte, die Elemente seien nur Erscheinungsformen, also Aggregatzustände eines einzigen Ur-Grundstoffes (Tim. 48b) Aber schon die altindische Kosmogonie besagte etwas ganz ähnliches: Am Beginn der Weltschöpfung sowie zur Weltauflösung, jeweils am Ende eines Zeitalters, würde die Materie eine stufenweise Evolution und Absorption erfahren. Aus dem göttlichen Ur-Es Brahman komme Akaca (energiegeladener Ätherraum), daraus entstünde Luft, daraus Feuer, daraus Wasser, daraus Erde (Chand. 4.3,1). Solcher Auffassung liegt wohl die umgekehrte Beobachtung zu Grunde, wie Festes sich in Wasser auflöst, Wasser in der Feuerhitze verdampft, Feuer mit seinen Flammen in der Luft verflackert, Luft nach der Höhe zu sich mehr und mehr zum leeren Raum verdünnt. Diese Vedantalehre, von der periodischen Resorption und Neuschaffung der Welt durch Brahman, findet sich wieder in den Konzepten Anaximanders, Anaximenes, Diogenes, der Stoiker bis hin zur spätgerm. Edda (Völ. 59-66).
Kosmologische Reihenfolge
Über die richtige Reihenfolge der Elemente vermochten sich die griech. hellenistischen Denker nie zu einigen. In Platons Werken sind zwei Versionen enthalten, und sein Schüler Aristoteles (384-322 v.0) blieb ebenso unsicher; er fand, wie seine Schriften ausweisen (De Generatione, Meteorologie), keine widerspruchsfreie Lösung. Zu beachten ist, dass bei den Indern zwischen Wasser und Luft das Feuer steht: Die fünf grobstofflichen tanmatra-Elemente sind: Äther>Luft>Feuer>Wasser>Erde und die aus ihnen gemischten sichtbaren Dinge; z.B. Taittirîya-Up. 2.1: Atman/Brahman>Akaca/Äther/Raum>Wind/Luft/Vayu>Feuer/Tejas>Wasser/Apas>Erde/Prithivi>Pflanzen>Nahrung>Sperma>Mensch -, bei den Griechen steht hingegen zwischen Wasser und Feuer die Luft. Den Pythagoreern zufolge, deren Lehre eng mit derjenigen der Orphiker zusammenhing, war Feuer das erste aller Elemente. In der gnostischen Schrift, iran. geprägt, aus Nag-Hammadi NHC VIII,1 (ca. Anfang 2. Jh. n.0) die „Himmelsreise des Zostrianos“ findet sich diese Elemente-Liste: Erde>Wasser>Luft>Licht>Feuer.
Der urgerm. ODING-Werkmeister folgte weder der einen noch der anderen Richtung, seine Konstruktion ist logisch aber ohne direktes (bekanntes) Vorbild. Ob er sich aber eigengesetzlichen heimischen Traditionen verpflichtet fühlte, oder ob er ein persönliches Denkmodell entwickelte, bleibt ungewiss. Unzweifelhaft dagegen ist, dass er mit den ersten 5 Runen eine Urstoffregel und -folge aufzustellen beabsichtigte, denn wer in damaliger Zeit eine ernstzunehmende Schöpfungsgeschichte niederlegen wollte, kam nicht umhin, mit der Urstoffentstehung zu beginnen. Er entwarf eine sinnvolle Zusammenschau der unterschiedlichen Elemententheorien und schuf die aus vielerlei Betrachtungsebenen - insbesondere auch der zahlenmythologischen - stimmige und folgerichtige Urstoffreihung, die bei hinreichender Kenntnis der antiken Götterlehren, Glaubensformen und Philosophien sehr gut nachvollziehbar ist.
1. Rune O / Runenname: oðalan (ae. oeðel, „Heimatland") = Erbgrund, ERDE; 2. Rune D/ Runenname: dagaz = Tagvater/Urgott mit der Doppelaxt = LUFT; 3. Rune Ng-Ing / Runenname: ingwaz = Sonnen-/Fruchtbarkeitsgottheit = FEUER; 4. Rune L / Runenname: laguz = WASSER; 5. Rune M/ Runenname mannaz: Urmensch = ÄTHER.
ERDE
Die Menschenheimat Erde, „Mutter Erde", „die Urkuh", mithin auch das Element ERDE, an den Beginn zu stellen, entsprach allgemeinen Einsichten und mythischen Denkgewohnheiten, denn das gebärende mütterliche Prinzip wurde mit dem irdischen Lebensraum des Menschen gleichgesetzt. In ind. Mythologie gilt die Göttin Prakriti als Urmaterie. Auch der Grieche Hesiod verkündete in seiner Theogonie: „Erst wurde Chaos, später Gaia [Erde]“. Sie, die Erdmutter, gebiert in griech. Sagenwelt erst den Himmelsgott Uranos. Der Tuisto, der zwiefache Urschöpfergott der Germanen, galt nach Tacitus Bericht als „erdentsprossen“.
Natürlich haben sich die in naturwissenschaftlichen Kategorien spekulierenden Philosophen bei dem Begriff „Element Erde", als dem ersten Seienden, keine grobe Erdscholle gedacht, sondern das feinste Partikelchen, aus dem eine Erdscholle aufgebaut ist, also eine Art Urmaterie-Atom, welches sich die Pythagoreer und Platon als Sechsflächner/Würfel vorstellten. Noch in den mittelalterlichen Lehren der Alchimie gilt die ERDE, geradeso wie schon bei Anaximenes und Xenophanes (griech. Philosophen 6./5. Jh.v.0), als das Symbol des Urstofflichen und erste Grundlage aller körperlichen Erscheinungen.
LUFT
Dem indoarischen Mythos entsprechend, gebiert das weiblich-irdisch-geistige göttliche Ur-Es die männliche, spannungsgeladene Gotteskraft, den Demiurg, den Weltenbaumeister/Schöpfergott („Zimmermann“/„Schmied“). Da Werdung ganz allein aus dem Spannungsfeld polar gegliederter Energien denkbar ist, musste dieser Urgott als Zweiwesiger (Tuisto) begriffen werden, dem das sinnfällige Attribut Doppelaxt/Doppelhammer (der Zeugung und Vernichtung), beigegeben wurde. Die so verschieden erscheinenden Namen, die der indogerm. Himmelsgott bei den verzweigten Teilvölkerschaften trug - Dyaus-pita, Theos, Zeus, Jupiter/Diespiter, Ziu/Tiu/Tyr -, haben etwas mit dem Licht zu tun. Ihre Verwandtschaft mit lat. dies = „Tag", ist sprachwissenschaftlich erwiesen. Der ursprüngliche Inhalt des Namens muss nach seiner sprachlichen Beschaffenheit „der Aufleuchtende" sein, der das Aufleuchten der Himmelsluft, des Tages und schließlich das glückliche Aufleuchten des Lebens überhaupt bewirkt.
Die Verknüpfung dieses Vatergottes mit dem Element LUFT dürfte sehr alt sein, denn Gott wurde zum einen vornehmlich in luftiger Himmelshöhe gedacht, und zum anderen ist die Atemluft leicht als Prinzip des Lebens, der Seele und des Geistes zu begreifen. Griechische Philosophen und Naturforscher des 6./5. Jh.v.0, wie Anaximenes, ldäus und Diogenes von Apollonia, lehrten, dass das Element LUFT der Schöpfergottheit zuzuordnen sei; Anaximenes sagte: „Die Luft steht dem Unkörperlichen nahe". Diogenes identifizierte die LUFT unzweideutig mit dem Himmelsvater Zeus. Anaxagoras (500-428 v.0) stellte die Luft als männlich befruchtendes Prinzip der Erde, dem Weiblich-Aufnehmenden-Ernährenden, gegenüber. Von dem röm. Dichter Ennius (239-169 v.0) ist der Ausspruch erhalten: „Jupiter, den die Griechen Luft nennen. Er ist Wind und Wolken, dann Regen und aus Regen wird Kälte, dann Wind und aufs neue Luft". Doch selbst nach dem Aufkommen der Äther-Lehre, als man begann, diesen fünften Urstoff dem Zeus beizulegen, hatte sich im Grunde nicht viel geändert, war doch auch Platon der Meinung, Äther, das göttliche Belebungselement, sei lediglich die reinste Form von LUFT (Tim. 58 d).
Aber schon die indoarischen Götterlehren des Veda setzten die LUFT - bzw. den Wind/ Weltatem Vayu - mit Gott Brahma in eins. Bei den Ägyptern war es Amon (Zeus), der die „Luft des Lebens" schenkte; man betete zu ihm: „Gib uns Luft". Der Gotteshauch, der Lebenswind, den der Mensch atmet, ist nach weit verbreiteter Ansicht „Wind", der „aus dem Munde Gottes" kommt. Diesem Gedanken folgend, kann das Element LUFT nicht anders als an zweiter Position placiert werden; denn erst nach der göttlichen Belebungshauch-Spende kann im mythischen Sinne die weitere Schöpfung erfolgen. Auch Aetius (6.Jh. n.0), ein Mediziner, der die alten Philosophen kommentierte, meinte (II 7,1), die Luft sei eine Ausdünstung der Erde ( >), indem deren gewaltsamere Zusammenziehung verdunstet. Die Annahme, dass die Luftatome in Oktaederform, also der Gestalt regulärer Achtflächner gebildet seien, könnte mit der Bedeutung der Acht als Zahl des Himmelsgottes zusammenhängen.
FEUER
Dass „Feuer aus Luft und Erde" entsteht, lehrt der natürliche Anschauungsunterricht, und ebenso spekulierte Aristoteles in seinen Schriften (z.B. De Gen. 331 b 24-26). Wer wie er (De Gen. 331 b 2-4) und sein Lehrer Platon (Tim. 49 b-c) in naturwissenschaftlicher Absicht die Elemente in Ringform anordnet, um einen wandlungsfähigen Kreislauf der elementischen Aggregatzustände darlegen zu können, der muss das FEUER zwischen Luft und Erde stellen; wer hingegen nichts als eine Werdestufung schildern will, vermag schwerlich einer anderen Ordnung zu folgen als jener des Runenschöpfers.
Auch die Stoiker lehrten, wie vor ihnen schon Anaximenes, aus der Luft würde sich bei weiterer Verdünnung derselben das elementare FEUER entzünden ( > ). Wer das Bild vor Augen hat, wie der Sturm in Brände schlägt, um die Flammen rasend anzufachen, der versteht die Auffassung, dass Feuer ein Abkömmling der Luft sei.
Bereits in den Gestirnstheorien der Vorsokratiker spielte das Feuerelement die zentrale Rolle. Geradeso verstand die Stoische Schule die Gestirne als Feuermassen. Anaxagoras vermutete, Felsmassive könnten durch den Umschwung, einstmals von der Erde losgerissen, dabei in Glut versetzt und zu Sternen geworden sein. Ebenso meinte Xenophanes, Gestirne seien Ausdünstungen der Erde. Sonne und Sterne müssten aus Feueratomen bestehen, wie alles was Licht und Wärme ausstrahlt, so lautete die zwangsläufige Vermutung. So auch Aetius (II 7,1) mit der Ansicht, dass die Sonne und die Milchstraße Ausatmungen des Feuers seien. Aus beiden, Luft und Feuer ( > ), sei der Mond (L) gemischt. Naheliegend ist, dass die Sonne als Kind/Sohn (Sonne und Sohn gehören gleichem Wortstamm an) des Himmels-/Luftgottes (und der Erdmutter) begriffen wurde. Ohne Himmelsfeuer/Sonnenlicht und -wärme entsteht keine irdische Fruchtbarkeit; deshalb ist die runologische Einordnung des germanischen Sonnenfeuer-/Vegetationsgottes Ingo-Frō auf 3. Werdestufe als personifiziertes Feuer-Element, im Rahmen der natürlichen und naturmythologischen Denkgesetze, absolut richtig. Die Plazierung des FEUERS darf in einer derartigen Elementenreihung nicht anders erfolgen. So beschrieb schon Anaximander (griech. Naturforscher/Philosoph 610-546 v.0) den Abtrennungsverlauf aus dem „bewegten Urstoff" des „unendlichen Prinzips": „Es sonderte sich die Erde, die Luft und der Feuerkreis ab" ( > > ). Zur runischen Ursachen-Folge, dass dem Tag/Luft-Komplex der Sonnen/Feuer-Komplex nachgeordnet ist, erscheint auch ein Satz des Pythagoreers Empedokles (492-430 n.0) sehr bezeichnend: „Die Sonne bewirkt nicht den Tag, sondern der Tag bewirkt die Sonne" ( > ). Da in allen indogerm. Gestirnsentstehungsfolgen die Sonne dem Mond vorangestellt wird und die Sonne dem Feuer, der Mond aber dem Wasser entspricht, ist auch die runische Folge festgelegt: Schon Rigveda-Vers 10.190,3 sagt: „der Schöpfer schuf Sonne und Mond“; die Völuspa 5,1 bestätigt: „Die Sonne von Süden, gesellt sich dem Monde [...] nicht wusste die Sonne wo sie Wohnung hatte, der Mond wusste nicht welche Macht er hatte“ ( > ).
Die pythagoreische und platonische Schule meinte, das Feueratom müsse die Gestalt des Tetraeders, also einer dreiwandigen Pyramide haben. Die ideale 3-Zahl harmoniert in besonderem Maße mit dem Feuerelement, dem noch in der mittelalterlichen Alchimie nachgesagt wurde, es repräsentiere das Reich des Geistigen und des Lebens.
WASSER
Dem Feuer folgt in runischer Elementenfolge das WASSER. Dies ist wenig verwunderlich, sagt doch schon der Veda (Chāndogya-Up. 6. 2,3) von der Werdegeschichte: „Da erschuf es die Glut [...] Da erschuf sie die Wasser. Wenn daher irgendein Mensch irgendwo Schmerz empfindet oder schwitzt, entstehen da gerade aus der Glut heraus Wasser [-tropfen von Schweiß oder Tränen].“ Auch der Grieche Anaximenes gab die Stufen, welche der Stoff bei seiner Verwandlung durchlaufe, so an: Durch Verdünnung werde die Luft zu Feuer, durch Verdichtung zuerst zu Wind, wieter zu Gewölk, hierauf zu Wasser. Heraklit (griech. Philosoph um 500 v.0) beschrieb seine Theorie, das Weltleben bestehe aus fortwährenden Wandlungsprozessen der Stoffe nach unten in die Verdichtung und wieder nach oben in die Verfeinerung. Unter dem „Weg nach unten" verstand er Übergänge der Feuersubstanzen zu Wasser, schließlich Wasser zu Erde. Beide Prozesse - jener der Erstarrung des Feuers zu Wasser und Erde und jener der rückläufigen Wiederentfachung - würden überall auf der Welt in ewigem Wandel auftreten. Die Stoiker verstanden es in ihren Betrachtungen über die Urstoffwandlungen nicht anders, nämlich dass Feuer zu Wasser und dieses wieder zu Feuer werden könne. „Alle können ineinander übergehen", glaubte Aristoteles (De Gen. 332 b 14-30). Empedokles formulierte ganz konkret: „Das Meer ist eine durch Sonnenhitze hervorgerufene Ausschwitzung der Erde". Hieraus wird ersichtlich, dass die Urstoff-Folge „Feuer-Wasser" im Denken der Alten ihren festen Platz besaß.
Wo sich Urmaterieteilchen zur lkosaederform, also regelmäßigen Zwanzigflächnern, zusammenstellten, ist Wasserzustand vorhanden, so spekulierte Platon. Noch in der Alchimie des Mittelalters galt WASSER als Symbol des Bindegliedes zwischen Stoff und Geist.
ÄTHER
Die Elemententheorie der antiken Philosophen ging seit Platon davon aus, dass den vier irdisch-stofflichen Elementen Erde, Wasser, Luft, Feuer eine fünfte, rein geistige Substanz, der Lichtäther, „das fünfte Seiende" (quinta essentia), gegenüberzustellen sei. Der ÄTHER galt dem Aristoteles und seiner Schule als Stoff der Weltseele; er wurde als „das Wirkende", von den 4 Elementen als „den Erleidenden" abgegrenzt. Aristoteles behauptete, dass der ÄTHER von der Gottheit selbst „berührt" wird, so wie die in einem Samen schlummernde Keimkraft von der Frühlingssonne; in solchem Sinne reagiere der ÄTHER auf die göttliche Notwendigkeit; er sei der alleinige Ursprung aller Bewegung (Met. Kap. 2). Diejenigen, die in ihm das Element des Zeus sahen, für sie war es die kosmische Belebungs- und Wirkkraft, der göttlicher Geist, die Weltvernunft und schließlich die Summe aller Seelen, die Weltseele.
Die pythagoreischen sowie die neuplatonischen Schulen des 3./4. Jh.n.0 lehrten, die Ätheratome hätten die Gestalt eines Dodekaeders, den Jamblichos „Kugel aus zwölf Fünfecken" nannte. Folgerichtig mutet der Gedanke an, die gesamte Welt in kugelförmiger Dodekaedergestalt (mit 60 Ecken) derart zu begreifen: Gott konstruierte das Dodekaeder und beschrieb nachher die kosmische Kugel darum.
Eine gottähnliche oder gottgleiche Seele rechnete man allein dem Menschen zu, er nur galt der rein theoretischen Betrachtung fähig, seine geistigen Aktivitäten gleichen qualitativ dem göttlichen „Denken des Denkens" - so meinte Aristoteles. Der Mensch wurde als Herr und Meister über die 4 Elemente erkannt. Er ist aber nach allgemeiner Einsicht, doppelten Ursprungs und somit zwiefacher Natur; seinen Leib hat er aus der weniger guten sterblichen Materie, und seine ewige Seele mit der Geisteskraft ist vom „Guten Gott". Aus dieser Sicht gleicht der „Mikrokosmos" Mensch der Gesamtwelt, dem „Makrokosmos". Der Mensch ist gemischt aus den stofflichen Elementen Erde, Luft, Feuer, Wasser - aber ihm ist das geistige Wesen der Ätherseele dazugegeben. Der eine Teil seiner Beschaffenheit (sein „höheres Ich") zieht ihn hinauf, seine materiellen Anteile aber ziehen ihn hinab. Insbesondere die iranisch geprägte Gnosis identifizierte die Weltseele mit der Idee des Urmenschen. Die Schulen des Valentinos (Theosoph 1./2. Jh. n.0) der Manichäer, der Mandäer u.a. lehrten, die Weltseele bzw. der Urmensch sei freiwillig in die Materie hinabgestiegen und versuche sich nun wieder von der Last des Fleisches zu befreien. Er ist im Persischen der Erneuerer der Welt, Träger der Gottesbotschaft und Gotteskraft, der Erlöser für das ganze Menschengeschlecht und zugleich der Erlöste selbst. Er ist Gott und zugleich der ideelle Vertreter aller Seelen; er ist die große Seele, die Weltseele. Diese Grundanschauung, dass der Urmensch die Seelengesamtheit repräsentiert, die er erlösen soll, ist für den Gnostizismus im allgemeinen typisch und von prinzipieller Bedeutung, denn der ganze Erlöserglaube (auch der christliche) wurde darauf aufgebaut.
Es zeigen sich schlüssige Beweise dafür, dass das ODING als Zeugnis einer germanischen Gnosis angesehen werden darf. Sein Schöpfer erwählte den Begriff „mannaz/mannus", und die damit verbundene Idee des Urmenschen (der Weltseele) an einzig richtiger Runenstelle. Wer auf fünfter Werdestufe den Urmenschen folgen lassen will, richtiger gesagt, muss (!), da 5 die Menschenzahl ist, der musste ebenso zwanghaft auf vorausgegangener Position das Wasserelement erscheinen lassen. Der Satz des Thales (griech. Philosoph um 600 v.0): „Das Meer ist die Mutter und Wiege alles Lebendigen", behielt bis heute uneingeschränkt seine Gültigkeit. Auch Anaximander lehrte ausdrücklich den Meeresursprung aller Organismen; der Mensch ist dabei eingeschlossen. Die altarioindische Weisheit drückte diese Erkenntnis nicht viel anders aus als die spätheidnisch-germanische. Der Veda sagt: „Das Universum [brahman] war anfangs Geist [atman] in Gestalt eines Menschen; dieser zog aus den Wassern den Urmenschen [purusha]." Und die Edda (Völ. 17) sagt: „Es kamen zum Meeresstrand drei Asen [Gottheiten in menschlicher Gestalt], da fanden sie kraftlos Askr und Embla [das Urmenschenpaar]."
Die leibliche Wesenheit des Menschen ist aus dem Wasser, seine geistige aber aus dem ÄTHER, der Weltseele. Einen Fingerzeig auf das eigentliche Verständnis des germanischen Urmenschennamens mannaz/mannus schenkt uns die Wurzelbedeutung des Wortes „man" (ahd. mano u. manin, also Mensch/Mann u. Menschin/Frau), welche in allen indogerm. Sprachen auf „denken / geistig erregt sein" bezogen ist. Ihr darüber hinausgehender, auf die Weltseele bezogener Tiefsinn vermittelt die eranische bzw. manichäische Religion, in ihnen wurde von dem „mana" d.h. der „Seele" und „manuahmed" d.h. „Weltgeist/Weltseele", gesprochen. Im Arioindischen ist die Seele, „atman" mit „brahman", der Gottheit, identisch.
Es ist mit diesen Darlegungen deutlich geworden, dass jener Geist, der das ODING erklügelte, eine aussagestarke Urstoffreihung, unter Berücksichtigung der mit ihr harmonierenden Zahlenmystik, schuf. Wie unbedingt richtig ihm diese Regel erscheinen musste, geht noch einmal verstärkt aus dem folgenden hervor: Die 5-Zahl galt der Antike auch als „Ehezahl", also der ermöglichten Verbindung von Geist und Stoff. Zum Zahlenwert des Urmenschen/Mannaz (der 5) addieren sich die „hinabziehenden" Urstoffe: ( Erde 1) + ( Wasser 4) = ( Urmensch 5, als fleischlich-stoffliches Wesen), ebenso wie die „hinaufziehenden" Urstoffe: ( Luft 2) + ( Feuer 3) = ( Ur-mensch 5, als Seelen-/Ätherwesen); denn dem allgemeinem Verständnis zufolge galt ÄTHER als eine Art Feuer-Luft; Cicero drückte es so aus: „Die Seele ist ein feuriger Hauch". (Disput. Tuscul. I 42)
Die pythagoreischen sowie platonisch-aristotelischen Schulen lehrten, die Ätheratome hätten die Gestalt eines Dodekaeders, den Jamlichos (Neuplatoniker ca. 250-325 n.0) „Kugel aus 12 Fünfecken" nannte. Einleuchtend ist der platonische Gedanke, auch dem gesamten Kosmos Dodekaedergestalt zuzumessen, ihn also als Hohlkugel mit 60 Winkeln zu verbildlichen. In gleichem zahlenmystischen Sinne verbindet die Mannaz-/Äther-/Weltseelen-Rune (als unverkennbares Hexagramm-Bildkürzel) die Seelenzahl 5 mit dem Sechsstern, dem Mikro-/Makrokosmos-Symbol.
Der ODING-Schöpfer stellte also eine ganz vernünftige Elementenreihe auf, die sich im Rahmen der Schulen seiner Zeit bewegte: Die Folge Erde-Luft findet sich bei Okkelos, Alexander, Xenokrates und Philolaos, die Folge Luft-Feuer bei Jamblichos, die Folge Feuer-Wasser wieder bei Okkelos, Alexander, Xenokrates, Philolaos und die Folge Wasser-Äther bei Aetios. Der neuplatonische Interpret Simplikios (1. Hälfte 6. Jh.n.0) schreibt in seinem Physikkommentar (157, 25ff), eine der wichtigsten Quellen zur frühgriech. Wissenschaft: „Einmal wächst alles zusammen, um ein alleiniges Eines zu sein aus Mehreren, das andere Mal entwickelt es sich zu Verschiedenem, dass Mehreres ist aus Einem: Feuer und Wasser und Erde und Luft unermessliche Höhe...“ Die beiden Gegensatzpaare sind so auch in runischen Folgen genannt: > und > . Doch die kosmogonische Runenfolge könnte noch weitergehend unschwer aus gnostisch-hermetischen Zeugnissen herausgelesen werden. Der griech. Zauberpapyros P-XIII (aus 346 n.0) enthält eine Schöpfungsgeschichte, die sich im Runenreihenbeginn erkennbar wiederfindet: „Gott lachte siebenmal, beim ersten Lachen entstand Phos [Glanz] und schied das All. Und er ward Gott über das Weltall und das Feuer. Er lachte zum zweitenmal: da war alles Wasser. [...] Doch als er zum drittenmal lachen wollte, erschien durch Grimm des Gottes der Geist, der ein Herz hielt. Er wurde genannt Hermes durch den alles verdolmetscht ward. Er steht über dem Verstand; durch ihn wurde das All verwaltet. Zum viertenmal lachte der Gott, und die Zeugung erschien, welche die Aussaat von allem hielt, durch die alles gezeugt ward. Er lachte zum fünftenmal und wurde traurig beim Lachen, und die Moira erschien, die eine Waage hielt und so andeutete, in ihr sei die Gerechtigkeit. Hermes aber wetteiferte mir ihr und sprach: ,In mir ist die Gerechtigkeit‘ Und als sie stritten, sprach der Gott: ,Aus beiden wird die Gerechtigkeit erscheinen, aber alles in der Welt wird unter dir [Moira] stehn!‘ Und als erste erhielt sie das Zepter der Welt. [...] Er lachte zum sechstenmal und freute sich sehr. Da erschien Kairos, ein Szepter haltend, Herrschaft andeutend; und er gab dem erstschaffenden Gott das Szepter, und der nahm‘s und sprach: ,Du sollst, umgeben von der Glorie des Lichtgottes, nächst mir sein, [...] Und als er sich die Glorie des Lichtgottes umgetan, zeigte sich die Sonnenscheibe [...]. Da sprach der Gott zur Königin: ,Du sollst, umgeben mit dem Schimmer des Lichtgottes, nächst ihm sein, das All umfassend. Wachsen wirst du durch den Lichtgott, von ihmempfangend, und wirst wieder abnehmen durch ihn. Mit dir wird alles wachsen und abnehmen.‘ Aber der große wunderbare Namen lautet, 36 Buchstaben. Er lachte zum siebtenmal, schwer aufatmend, und da entstand Psyche, und alles kam in Bewegung. Der Gott aber sprach: ,Alles wirst du bewegen, und alles wird sich freuen, wenn Hermes dich geleitet..' Als der Gott das gesprochen, wurde alles bewegt und mit Lebenshauch erfüllt, unaufhaltsam. Als der Gott das sah, schnalzte er, und alles erschrak; denn durch das Schnalzen erschien der gewappnete Schrecken....“
Dieses mythische, auf uns dunkel und streckenweise albern wirkende hermetische Traktat, führt recht genau die Genesis der Runenfolge auf: Urgöttliche Wesenheit () - Tagesglanz () - Feuer () - Wasser () - Urmensch/Hermes/Logos () - Lebensaussaat () - Schicksalsmutter () - Lichtgott () - Sonne () - Königin (), am Ende erscheint der Schrecken (). Damit zeigt sich, dass über bestimmt viele unterschiedliche Betrachtungen der einzelnen Schulen hinweg, ein neupythagoreischer oder hermetischer Grundkonsens anzunehmen ist, den wir in der Runenreihung, als eigenständigen germ.-heidnischen Entwurf, vor uns haben. Lat. paganus, ahd. heidano, mhd. heide/heiden, altn. heiðingjar, engl. heath/heathen.
1. Erde/Uranfägliches - 2. Luft/Überirdisches - 3. Feuer/Himmelsfeuer - 4. Wasser/Feuchte - 5. Äther/Geist
Verwendete Literatur
2 Eduard Zeller, Grundriss der Geschichte der griech. Philosophie, 1886
3 Eva Sachs, Die fünf platonischen Körper, 1917
4 Paul Gohlke, Die Entstehung der aristotelischen Prinzipienlehre, 1954
5 Gustav Adolf Seeck, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles, 1964
6 Kurt Rudolph (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus, 1975