Robert Ranke-Graves (1895-1985)
gemalt von John Arthur Malcolm Aldridge
 
 
„Die Weiße Göttin“ und der alteuropäische Kalender
(Eine etwas berichtigte Buchbesprechung des Magazins „Der Spiegel“/82)
 
„Dass die Sprache des einst am Mittelmeer und im nördlichen Europa verbreiteten poetischen Mythos eine magische Sprache war, vermischt mit populären religiösen Zeremonien zu Ehren der Mondgöttin oder der Muse, deren einige bis auf die ältere Steinzeit zurückreichen“ (S.184), ist sicher richtig. Dieses Verständnis vermittelte der Autor Robert Ranke-Graves in seinem Buch „Die weiße Göttin“, 1948. Der Anführer einer Totemgesellschaft war in frühester Zeit der Dichter und Sänger, welcher tanzend um einen Altar oder in einem heiligen Kreis, die Herrschaft der Großen Göttin, der Herrin der Wilden Dinge, feierte und verherrlichte und damit im Ritual den Zusammenhang zwischen dem Vegetationszyklus in der Natur und dem menschlichen Bewusstsein herstellte. (Spiegel 07.06.1982) Recht verständlich kann diese These nur werden, wenn man sich daran erinnert, dass es im prähistorischen Europa eine Muttergottheit gab, in der der Vegetationskreislauf von Werden und Vergehen („Life is birth, copulation and death“, lautet eine in der Moderne daran erinnernde Zeile von T. S. Eliot) nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere und Pflanzen verehrt wurde. Nachfolgebild dieser Muttergottheit, zu deren frühesten Bildnissen beispielsweise das der „Venus von Willendorf“ [ca. 30.000 v.0] zählt, ist dann eben jene dreigestaltige Weiße Göttin, die, wie Ranke-Graves schreibt, „als die Weiße Dame in vielen Geistergeschichten und in den alten Religionen, von der britischen Insel bis zum Kaukasus, vorkommt“ und ein theatralisches Nachleben etwa in dem Hexen-Trio in Shakespeares „Macbeth“ hat.
 
In ihrer Dreigestalt als „Parthenos“, als Jungfrau im Sinn einer freien, keinem Mann untertanen Frau, als Mutter und als Greisin oder hexenhafte Alte personifiziert sie die wichtigsten Fixpunkte im Jahresablauf. Ihre „Frühlingsgestalt“ verweist auf die Initiierung ihres irdischen Heros, des Königs des zunehmenden Jahres, ihr „Sommergesicht“ erinnert an die zu Beginn dieser Jahreszeit stattfindende „himmlische Hochzeit“, ihr Beilager mit dem Heros. Dem Winter zugeordnet ist sie in ihrer dritten Gestalt, als Todesgöttin, an deren Fest ursprünglich die rituelle Opferung des Königs vom vergehenden Jahr vollzogen wurde, die zugleich Voraussetzung für die Wiedergeburt allen Lebens ist. Dreigestalt und Farbe der Göttin verweisen auf ihren Bezug zum Mond als weibliches Gestirn im Unterschied zur männlich besetzten Sonne. Auch die Gegenstände, mit denen die Triade auf ihren Altären abgebildet wird, bestätigen diesen Zusammenhang: Pfeil und Bogen für den Sichelmond, Welt-Ei und Liebesapfel für den Vollmond, Todesapfel und Obstgarten als Bilder für eine paradiesische Jenseitswelt. Der „für eine matriarchale Gesellschaft charakteristische Mythos“ (Göttner-Abendroth) wird etwa um 1900 v. Chr. im ägäischen Raum durch den Einfall aus dem Osten kommender Stämme erschüttert, die die Institution der Vaterschaft schon kennen. Das patriarchalische System der Götter kann zunächst nur durch einen Kompromiss oktroyiert werden. Die bis dahin allmächtige Göttin wird als Schwester des Vatergottes ausgegeben. Erst mit der Zeit triumphiert der vaterrechtliche Sonnengott über die alte Mondgöttin.“
 
Hier ist dem Spiegel-Texter nicht mehr zu folgen, denn die Eroberer kamen nicht aus dem hethitischen Osten, vielmehr aus dem europäischen Norden, wo sich aus den wetterharten Küstenkulturen der Ertebölle-Leute sich jene Kommandostrukturen der Schiffsbesatzungen entwickelten, die in die patriarchalischen Vatergott-Religionen einmündeten. Die während dieses Konflikts aus Nordeuropa über Mitteleuropa nach Kleinasien und Griechenland auswandernden Stämme, in denen sich das Königtum zunächst noch weiter matrilinear vererbte, identifiziert Ranke-Graves als jene im „Buch der Invasionen“, einem im 12. Jahrhundert von keltisch-christlichen Mönchen verfassten mythopoetischen Bericht, erwähnten Tuatha de Danaan, die in der mittleren Bronzezeit aus Festlandeuropa bis nach Irland gelangten.
 
Die matriarchale Altkultur erhielt sich in gewissen Regionen der Britischen Inseln noch lange - ebenso wie auf dem Festland - und wurde möglichweise noch verstärkt durch die Einwanderungswellen der kontinentalen Kelten auf die Grüne Insel, die durch archäologische Funde auf die Zeit zwischen 700 v.0 bis 50 n.0 datiert werden können. Ob die mannhaften, kriegerischen Kelten tatsächlich ins Mutterrechtliche tendierten, darf allerdings, in Anbetracht ihres Volksgottes Teutates, heftig bezweifelt werden. Nicht anders als in den keltisch-germanischen Mischgebieten ist die dreigestaltige Göttin fassbar, beispielsweise als Morrigan, Macha und Badb in Irland oder in den weiblichen Gestalten der aus Wales stammenden „Zweige des Mabinogion“, mit unterschiedlichem Namen, „aber bei gleichbleibendem Bedeutungszusammenhang immer wieder auf, während unterdessen in Griechenland der Männergott Zeus längst endgültig den Sieg davongetragen hat“, meint der irrende Spiegel-Autor. So glatt und lehrbuchstreng liegt die Sachlage jedoch in Wahrheit nicht. Während man an den Herrenhöfen Griechenlands, der Keltika und im Germanischen die Heerführergeleitgötter verherrlichte, waren die einfachen landbestellenden Menschen ihren weiblichen Erdmuttergottheiten treu, die später in vater-monotheistischer christlicher Ära in die Marienverehrungen übergingen.
 
Zutreffend ist: „für die Rolle des Christentums bei der allmählichen Unterdrückung des Mythos ist die Entwicklungsgeschichte der im keltischen Gallien verehrten Spielart der Weißen Göttin, der Brigantinae oder drei Brigitten.“ Ob erst die keltischen Invasoren den Glauben an die „Drei Brigitten“ mit nach Irland brachten, wissen wir nicht, die Dreizahl numinoser Erscheinungsbilder ist weltweit verbreitet. Jedenfalls gab es bei Kildare ein Feuerheiligtum dieser dreigesichtigen Göttin, das die Einführung des Christentums in Irland überlebte. „In dem ohne Gewaltanwendung christianisierten Irland des 5. Jahrhunderts wurde aus den drei Brigitten schließlich eine Heilige Brigid [mit ihren drei Erscheinungsformen], zu deren Ehren man an der Stelle des alten Heiligtums ein Kloster errichtete, in dem bis zum 12. Jahrhundert weiterhin ein ewiges Feuer brannte.“
 
Korrekt ist: „Die Hymne auf die christliche Heilige, deren Namensfest mit dem alten Imbolcfest (1. Februar), dem Frühlingsritual der Weißen Göttin, zusammenfällt, war für die Anhänger des alten wie des neuen Kultes akzeptabel (S.186): ,Brigid, ausgezeichnete Frau, aufspringende Flamme, möge dein wild-helles Licht uns ein ewig dauerndes Königreich bescheren !‘ Zunächst also versuchte das Christentum den alten Glauben zu integrieren, später, als es über einen entsprechenden Machtapparat verfügte, verteufelte es ihn. Er war aber, da er die Seinsbedingungen des Menschen ansprach, von so starker Überzeugungskraft, dass er, vor allem in Regionen mit ausschließlich oder vorwiegend agrarischer Struktur, nie ganz in Vergessenheit geriet.
 
Den mannigfachen Spuren und Verwandlungen des Mythos der Weißen Göttin quer durch einen Zeitraum von circa 4.000 Jahren und geographisch aus dem Mittelmeerraum bis nach Nordwesteuropa folgt Ranke-Graves, ansetzend zunächst bei aus Wales stammenden mythologischen Fragmenten wie dem ‚Cad Goddeu‘ (Schlacht der Bäume), das er als Darstellung einer religiösen Auseinandersetzung, überliefert durch die walisischen ‚minstrels", entschlüsselt.“ Hierbei handelt es ich um eine These, deren Richtigkeit nicht belegt werden kann, sich aber an der alten Muttergottheit Maltas anlehnen dürfte.
 
Falsch ist nun erwiesenermaßen, dass es Ranke-Graves gelungen wäre, aus dem irischen „Beth-Luis-Nion-Baumalphabet“ einen Kalender der jahreszeitlichen Baummagie Alteuropa rekonstruieren zu können. Sehr richtig kritisiert der Spiegel-Autor: „Hin und wieder stellt er bei seinem Parforce-Ritt durch Zeit und Raum Bezüge her, die mythopoetisch ein Aha-Erlebnis bewirken, aber bei Heranziehung von Erkenntnissen aus dem Bereich der modernen Archäologie sich dann doch nicht so selbstverständlich bestätigen, wie er es offenbar annimmt…Man kann dieses Buch auch dann mit Gewinn lesen, wenn man die Schlussprognosen, dass die zukünftige Religion des Westens die Wiederbelebung des Glaubens an die Weiße Göttin sein müsse, nicht zu teilen bereit ist. Von der Rolle des Kulturdetektivs sich in die eines Gurus stürzend, schreibt der Autor am Ende mit einer apodiktischen Unverschämtheit, die auch etwas Erfrischendes hat:
 
‚Wiederbelebungen des Vatergott-Kultes, ob asketisch oder epikureisch, ob autokratisch oder kommunistisch, ob liberal oder fundamentalistisch, werden unsere Probleme nicht lösen können; ich sehe keinen Wandel zu Besserem, bevor nicht alles noch viel schlimmer geworden ist. Erst nach einer Periode der völligen politischen und religiösen Desorganisation kann das unterdrückte Verlangen der westlichen Kultur, das einer praktischen Form des Kults der Göttin gilt ... endlich Befriedigung finden. Solche Sätze könnten leicht als Aufruf zum absoluten Rückgriff auf einen im Magischen wurzelnden Mythos verstanden werden…“ Als wäre das was sich christlich nennt, um einen Deut besser, als ein magischer Mythos, denken wir nur an die Sündenerlösungspredigt durch „Gottesohnes-Todesopfer“ und an die Eucharistie einer „Wein-Blut-Umwandlung“. 
 
Robert Ranke-Graves hat mit seinem vielbeachteten Buch die „Weiße Göttin“ postuliert und einen „Keltischen Baumkalender“ dazu. Viele schöne Gedanken und Vermutungen hat er dem Neuheidentum geschenkt, wofür wir ihm dankbar sind. Doch obwohl er weit ausholte, gelang es ihm nicht, einen schlüssigen Beweis für seine Visionen zu erbringen. Es ist aller Ehren wert, dass er diesen Versuch unternahm. Die „Weiße Göttin“ ist aber mit einer einzigen ODING-Rune zu erweisen, nämlich der 7. Rune „Berkana“, welche von der weißhäutigen Birken-Göttin der Gallogermanen Zeugnis ablegt. Und der von Ranke-Graves nur erwünschte und deshalb erfundene vorrömisch-vorchristliche Kalender ist mit der Entschlüsselung der ODING-Runen ans Tageslicht getreten. Wie leicht wäre dem eifrigen Sucher Ranke-Graves sein Werk geworden, wenn ihm die Entschlüsselung der gallo-germanischen ODING-Runen gelungen wäre ! (Der Aufsatz nimmt Bezug auf den Artikel „Die Weiße Göttin“ im Magazin „Spiegel“ vom 07.06.1982)