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GOTTESSTREITER
oder nur Hirschmaskenfeind ?
- Die bessere Lesung der Runenschnalle von Pforzen -
Eine der längsten und vom Inhalt bedeutendsten Runeninschriften im ursprünglichen Buchstabensystem des Älteren Fuðark wurde erst 1992 aufgefunden. Sie ist dem 6. Jh. zuzurechnen. Es handelt sich um eine vorderseitig beschriftete silberne Gürtelschnalle aus dem Männergrab Nr. 239 des alemannischen Friedhofes von Pforzen, Landkreis Ostallgäu/Schwaben (Abb. 1). Beachtenswert ist der Umstand, dass der damalige Besitzer dieses Schmuckstückes der einzige Krieger im gesamten Gräberfeld von ca. 600 Niederlegungen war, der eine vollständige Waffenausrüstung besaß, wie sie nur alemannische Adlige trugen - bestehend aus zweischneidigem Langschwert, Messer, Lanze und Schild.
Die bislang von offizieller Seite vorgelegten Übersetzungen und Deutungen der Inschrift müssen nach sehr sorgfältiger Lupenprüfung des Originals, sowie eines von mir erstellten Diapositivs, als in der Wiedergabe ungenau, unvollkommen und in Übersetzung unkorrekt, beanstandet werden. Ich zeige hier die exakte Abbildung der Inschrift (Abb. 3) im Vergleich mit der offiziellen (Abb. 2), und erbringe die sich aus den faktischen Gegebenheiten ableitende Verdeutschung mit den erklärenden Verständnishilfen.
Abb.2 - Minderwertige Abbildung der Pforzen-Inschrift aus z.B. Wikipedia
Abb. 3 - Korrekte Abbildung der genauen Pforzen-Inschrift von G.Hess
(eindeutige Beschädigungskratzer sind weggelassen)
Um dem Leser mit der Vergleichsmöglichkeit eine eigene Beurteilungsbefähigung zu vermitteln, sollen zu Beginn der Untersuchung die schulwissenschaftlichen Ergebnisse aufgezeigt werden. Über die Kenntlichmachung deren Schwächen und Unzulänglichkeiten werden wir schließlich zum tieferen Runenverständnis der besseren Lesung gelangen, welche die sprachlichen, mythologischen, historischen Realitäten ebenso gelten lässt wie auch die zeitgeistigen Zwänge, denen der frühmittelalterliche Schnallenträger unterworfen war. Die drei bisherigen Veröffentlichungen zur Runenschnalle von Pforzen variieren im Text nur leicht; sie sind in ihren Kernaussagen gleichlautend. Ich zitiere eine der jüngsten Veröffentlichung von 1996. 1 Die beiden folgenden Texte sind ihr entnommen. Abb. 1 stammt aus Quelle 11. [Von Wolfgang Beck ist zwischenzeitlich eine neue Untersuchung vorgelegt worden: „Die Runeninschrift auf der Gürtelschnalle von Pforzen als Zeugnis der germanischen Heldensage?“, 2017]
„Der Neufund einer runenberitzten Schnalle aus Pforzen/Allgäu im Jahre 1992 brachte mit mindestens 27 Runen eine der längsten kontinentalen Inschriften ans Licht, noch dazu eine, die einen vollständigen Satz bietet mit Subjekt (Aigil und Ailrun: Frau und Mann) - Objekt ltahu ? vielleicht auch elahu ‘Hirsche’ - Prädikat gasokun ‘schelten, verurteilen’. Jeder Deutungsversuch hat mit der Lesung und Erklärung des Objekts zu kämpfen. Ein erster sieht in elahu ‘Hirsche’ eine Anspielung auf den heidnischen Brauch von Hirschverkleidung und -ver-wandlung, der in der kirchlichen Literatur des 7. und 8. Jh. gebrandmarkt wird ... könnte hier also eine Verurteilung heidnischen Brauchtums und damit eine Annäherung an den christlichen Glauben ausgedrückt sein.“
„Pforzen ... silberne Gürtelschnalle mit Beschlag, vermutlich romanisch-mediterraner Herkunft aus Männergrab 239. Auf dem rechteckigen, aus einem Silberblech gearbeiteten Beschlag findet sich eine feingeritzte zweizeilige Runeninschrift, die nach einer ersten Deutung wohl als Absage an heidnisches Brauchtum verstanden werden kann: Aigil andi Ailrun elahu(n) gasokun - „Aigil und Ailrun haben die Hirsche (d.h. die Hirschverkleidungen, -maskierungen oder -verwandlungen verflucht.“
Soweit die Darlegungen aus dem Begleitkatalog zur großen Frankenausstellung im Reiss-Museum zu Mannheim, S. 449f und 959. Wir werden sehen, dass beide Personennamen ungenau gelesen wurden. Dass darüber hinaus in größter Ungezwungenheit das Wort „elahu“, was nichts anderes als „Hirsch“ bedeutet, zur „Hirschverkleidung“ verzerrt wird, um eine „Annäherung an den christlichen Glauben“ herauslesen zu können. Das ist skandalös. Gerade die sog. Schulwissenschaft, welche der Laienforschung so gerne den Stempel der Unseriosität aufzudrücken bestrebt ist, sollte sich derartiger Freizügigkeiten enthalten, wenn sie den von ihr selbst vorgegebenen Maßstäben gerecht werden will. Wir erkennen an diesem Beispiel die Relativität auch „wissenschaftlicher“ Publikationen. Jede Zeit unterliegt einer Tendenz. Eine Manie unserer Zeit scheint, eigenständige heidnisch-germanische Funde möglichst als „mediterran beeinflusst“ oder „christlich geprägt“ umzudeuten, um ihnen den Charakter originärer Zeugnisse abzusprechen.
Keine heidnischen „Hirschverkleidungen“ sollen verdammt werden - davon ist in Wahrheit überhaupt keine Rede in der fraglichen Runeninschrift. Vielmehr wurde das genaue Gegenteil demonstrativ ausgesagt: Hier wird ein Bekenntnis abgelegt zur volksreligiösen Hirschverehrung bzw. zum Gottesstreitertum für den heiligen Sonnenhirsch.
Eine solche verchristlichende Fehldeutung gelingt nur bei völliger Nichtbeachtung des umfangreichen epigraphischen Kontext. Nicht der geringste Hinweis findet sich, welcher auf christlichen Einfluss hinweisen könnte - weder an der Schnalle selbst noch an den übrigen Grabbeigaben des Kriegers. Der heidnische Bestimmungsgrund geht, wie wir erkennen werden, nicht nur unzweideutig aus vorhandenen heidnischen Formelwörtern der Inschrift hervor, sondern auch aus den im Zierrand der Schnalle eingeritzten 18 Begriffsrunen ( = sowilo) mit der Bedeutung „Sonne“. Ein Christ oder ein dem heidnischen Brauchtum abholder „Wanderer zwischen den Fronten“ hätte als sachliches Mitteilungsmedium die Runenschrift wohl nutzen können und wollen - nicht jedoch die runischen Begriffszeichen, mit denen unausweichlich heidnisch-religiöses Gedankengut transportiert wurde. Die altreligiösen Sonnenrunen des Schnallenrandfeldes korrespondieren auffällig mit dem Objekt des Schriftsatzes „elahu“ = „Hirsch/Sonnenhirsch“. Auf die mythologische Bedeutung der Hirschallegorie im Denken der Alten und die sich daraus ableitenden Hirschmasken in den Brauchtumsumzügen muss ausführlicher eingegangen werden.
Schon der hethitischen Sonnengottheit war der Hirsch heilig, wie u.a. aus den gefundenen Hirschstatuetten hervorgeht, auf deren Körper sich das hethitische Sonnensinnbild mehrfach aufgemalt findet. Auch in der bronzezeitlichen (1700 - 800 v.0) Felsbildkunst der Frühgermanen Skandinaviens wird die Sinnverknüpfung von Hirsch und Sonnenrad mehrfach vorgeführt (beispielsweise die Gravuren des Sonnenwagens von Backa-Brastad und Hirsch-Sonnenrad-Kombinationen von Södra Ödsmal in Schweden). Im „Solarlioth / Sólarlióð“ (11./12. Jh.), dem isländischen Sonnenlied der Edda heißt es in Strophe 55: „Den Sonnenhirsch sah ich von Süden kommen - Von zweien am Zaum geleitet; - Auf dem Felde standen seine Füße, - Die Hörner hob er zum Himmel.“ Auch im keltischen Mythos spielt der Gotteshirsch eine erhebliche Rolle, wie das Fundmaterial ausweist (z.B. Kultwagen von Strettweg/Österreich, Kultkessel von Gundestrup / Dänemark). Spätantik-frühmittelalterliche heidnisch-germanische Hirschverehrung erweisen u.a. der Runenschemel von Wremen/Cuxhaven 2, das goldene Runenhorn von Gallehus/Tondern u.a. Auf beiden finden sich Darstellungen des in späterer christlicher Zeit so beliebten Hirschjagdmotivs des von wölfischen Unholden verfolgten Gotteshirsches. Wie unbeugsam der heidnische Volksglaube an diesen Vorstellungen festhielt, beweist der Umstand, dass schließlich auch die christliche Legendenbildung Anleihen aufnehmen musste und nun ihrerseits begann, den Hirsch zu heiligen. Der gejagte Sonnenhirsch hat in der Umprägung zur christl. Eustachius-Legende nur ein neues Gewand angelegt. Dem „Heiligen“ soll bei der Jagd ein Hirsch begegnet sein, der in seinem Geweih ein strahlenumwobenes (Sonnen-)Kreuz trug, wie es z.B. die Hirschjagd mit Hunden in einem Kapitellrelief der romanischen Kirche in Vézelay / Burgund darstellt. Christus, die Nachfolgeverkörperung des antiken Sonnengottes, erscheint als Hirsch, er ist der größte Hirsch der Welt, der weiße mit dem goldenen Geweih, der ein Kreuz auf dem Haupte trägt, der vom wilden Jäger oder von Wölfen gehetzt wird usw.3 Von den Goten erfahren wir, dass ihr König, der indirekte Vertreter der Gottheit, mit dem Hirschgespann fuhr. Der nordische Sonnengott Fro/Freyr erschlug im germanischen Mythos mit einem Hirschgeweih den Beli, den Führer der riesisch-teuflischen Schandrotte. Des Hirsches mythische Lichtgestalt lässt ihn zum Feind der Schlangen und des Drachens bzw. des Teufels werden. Wie altverbreitet derartiges Glaubensgut ist, ersieht man daraus, dass der alexandrinische Physiologus entsprechend der antiken Naturgeschichte von 140 n.0 lehrte: „Der Hirsch ist ein Feind des Drachen“
Sonnenhirsch in der hethitischen Sakralkunst
Eigener Felsbild-Abrieb von „Sonnen-Hirschen“ mit Sonnenrädern,
Basegården / Södra Ödsmål, südlich Hamburgsund
Von der gedachten Nähe oder Identität von Hirsch und Lichtgottheit führt ein nachvollziehbarer kleiner Schritt zum Hirsch als Seelentier: „In westnordischen Bildwerken wird der Seelenhirsch von Tod oder Teufel als Wolf gejagt.“ 4 Über solare Bezüge - weilt das Lichtgestirn doch selbst zu bestimmten Zeiten in der Unterwelt - wird der Hirsch auch zum Unterweltswesen, zum chthonischen Tier. Aus dem germ. Gräberfeld von Altendorf / Lkr. Bamberg (1./5.Jh. n.0) stammt der Knochenkamm mit Hirschmotiv (siehe Abb. 4). Wie eng das Haar mit der Seele bzw. mit dem immer neu erwachsenden Seelenleben verbunden gedacht wurde, ist dem Kenner germ. Denkens bewusst. Ein gleichgeformter Kamm aus Hirschbein fand sich bei der Ausgrabung einer germ.-thüringischen Siedlung bei Frienstedt / Erfurt, aus ca. 300 n.0; er trägt die Runenaufschrift „kaba“ (Kamm) und drei Sonnenzeichen.
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„Hirschdarstellungen [mit Sonnenzeichen] auf einem Tongefäß aus Premnitz (Krs. Havelland) in Brandenburg aus einem Grab der jüngeren nordischen Bronzezeit“, aus Ernst Propst, „Deutschland in der Bronzezeit“, 1999, S. 340
Der „Sonnenhirsch“ in christlicher Abwandlung mit Kreuz auf dem Kopf.
Jäger und Hunde knien vor ihm in Anbetung.
Taufstein der Östra Kärrstorps kyrka / Skåne / Schweden - Ein weiterer Hirsch, mit Kreuz auf Rücken, von zwei Hunden verfolgt, ist auf Taufsteinsockel der Kirche von Ørbæk zu sehen; Fig. 96 in M. Mackeprang, „Danmarks middelalderlige Døbefonte“, 1941.
Als ganz natürlich ist es zu verstehen, wenn in den verschiedenen Brauchtumsumzügen Alteuropas die Hirschvermummungen, die Hirschmasken, auftraten. Uns interessiert hier lediglich der keltisch-germanische Siedlungsraum. Eine frühe Quelle aus Südwestdeutschland, die sich mit Verbutzungen beschäftigt, sind die „Dicta abbatis Pirminii“, also Anordnungen des Abtes Pirmin, der im Kloster auf der Insel Reichenau (Bodensee) 753 starb. Da heißt es u.a.: „Geht nicht am Monatsersten oder zu irgend einer anderen Zeit als Hirsche oder als ...“ Anzumerken wäre, dass vermutet wurde, diese Verbote würden nicht aus dem 8., sondern erst aus dem 9. oder 10. Jh. stammen. Für die angelsächsische Kirche war bereits im 6. Jh. bestimmt: „Wenn jemand an den Kalenden des Januar sich in eine Hirschhaut ... steckt, ... der soll drei Jahre Buße tun.“ 5 Auch der intolerante, verbohrte Bonifatius beklagte sich in seinem Brief an Papst Zacharias im Jahre 742 über die deutschen Opferfeste, Umzüge und Verkleidungen mit Gesang und Spiel. Er erwähnte auch die Verteidigungsargumentation der Deutschen: Die Römer trieben es doch selbst nicht anders.
Wie wenig sich das Volk um diese Mahnungen christlicher Fanatiker in ihrer oberlehrerhaften Entrüstung bekümmerte, erweist sich allein aus dem Umstand, dass die verketzerten Umzüge ebenso wie die verteufelten Hirschmasken bis in unsere Tage nicht auszumerzen waren. Im Zuge der süddeutschen „Schiach’n Perchten“ beispielsweise erscheinen die Burschen, in schwarze Schafspelze gehüllt mit Kopfhauben; ihre hölzernen Masken sind Teufelsgesichter mit Hörnern, Hirsche etc. 6 Höhepunkte der Verbutzungen und des Maskentreibens liegen in der Phase der langen Nächte, also zur hohen Zeit der schwärmenden Seelengeister und gegen Frühlingsanfang (Faselnächte) sowie während der Allerseelenfeste im Winterbeginn.
Diese brauchtumsmäßigen Hirschvermummungen seien mit dem Wort = „elahu“ wohl gemeint, so vermuten die Übersetzer der Pforzener Runenschnalleninschrift. Das Runenwort „elahu“ ist aber neben althochdeutsch „elaho, alaho, elho“ zu halten und bedeutet nichts anderes als Elch/Hirsch in der Einzahl. Wer daraus eine „Hirschverkleidung“ ableiten will, sollte ermahnt werden dürfen, seine christophile Phantasie zu mäßigen. Bei dieser Freizügigkeit verhält es sich so, wie wenn in einem Text das Wort „Auto“ stünde und es mit dem Begriff „Autoradio“ übersetzt würde.
Bei nüchterner Betrachtung müsste aber auch ohne Berücksichtigung sprachlicher Kriterien klar sein, dass kaum ein Mensch, insbesondere kein Krieger/Soldat auf eine derart abseitige Idee verfallen würde, auf seine Gürtelschnalle draufzuschreiben, dass er ein Gegner der Hirschmasken sei. Das würde einen Grad von Verschrobenheit voraussetzen, der einem Mönch und Priester, also einem geistlichen Eiferer entspräche, nicht aber einem normalen, geistesgesunden Mann des rauen Frühmittelalters. Ja, es mutet die Annahme geradezu lächerlich an, es könne einem Alemannen in den Sinn gekommen sein, demonstrativ zu verkünden, er sei gegen den Verkleidungsbrauch und müsse seine Meinung auf dem zentralen Bekleidungsstück, dem Stolz seiner Kriegertracht, verewigen. Für welche etwaige Leser hätte er denn dieses Bekenntnis in einen Runensatz bannen sollen ? Die Übersetzer, welche solchen Unsinn glaubhaft machen wollen, mögen diese Gretchenfrage einmal in sachlicher Ruhe erwägen. So etwas Lapidares schreibt man nicht - und schrieb man nie - auf derart exponierte Stelle. Was auf einer Gürtelschnalle eingraviert wurde, hatte mehr Gewicht als nur eine Stellungnahme im alltäglichen Parteiengezänk.
Dass ein Krieger aber ein plakatives Bekenntnis zu seiner göttlichen Schutzmacht - dem Gotteshirsch - ablegt, das ist so naheliegend, dass es noch in unserem Jahrhundert tiefstes Verständnis erfährt. Denke man nur an die Formel auf dem Koppelschloss des deutschen Heeres: „Gott mit uns“ und an die vielen talismangleichen Gürtelschnallen noch heutiger Zünfte und Vereine.
Das erste Wort wurde als ein bislang unbekannter Männername „Aigil“ angesehen. Dazu ist eindringlich in Erinnerung zu rufen: Kein altgläubig-heidnischer Mensch der in Frage kommenden Epoche hätte seinen Namen ungetarnt auf der Frontseite seiner Gürtelschnalle preisgegeben ! Wusste ein Gegner den Namen des Kämpfers, so hätte er nach alter Ansicht Gewalt über den Namensträger erhalten. Die wahren Namen finden sich, wenn überhaupt, auf Schmuckstücken ausschließlich an versteckter Stelle, also den Rückseiten. 7 Bei aufmerksamer Betrachtung findet sich ein kleines runisches „s“ (Abb. 3) im Schriftfeldrand über dem Namen „Aigil“ zwischen den Buchstaben „i“ und „l“. Der wirkliche Name des Kriegers war also „Aigisl“. Namen aus Runeninschriften mit -gisl sind vielfach belegt, z.B. Audgisl, Eringisl, Asugisalas. Die Namen auf -gisl finden sich besonders im langobardischen Bereich. 8 Unter „gis“ verstand man einen Schössling, Spross - daher auch „gisil“ = „Pfeil“. Naheliegend, aber ungesichert ist, dass der Begriff urnord. „gisla“, altisländ. „gisl“ = „Geisel“ daraus abzuleiten ist, wurden doch in der Regel die Jünglinge und Jungfrauen, also die frischen Sprossen eines Stammes/Volkes, als Geiseln gestellt. Der Runenname „Aigisl“ könnte „Ahnenspross“ bedeuten, denn Ahn, Ohm, Großvater, das Väterchen heißt im Altnord. „ái“.
Das zweite Wort der Spangeninschrift heißt = „andi“, was als „und/auch“, althochd. „anti/unti“ zu verstehen ist. Als drittes Wort fügt sich = allrun, was offiziell als „Ailrun“ gelesen wurde. Diese Buchstabenfolge hat es im wahrsten Wortsinne in sich -, sie versteckt einen ganz starken Buchstabenzauber. Ob die schulwissenschaftlichen Übersetzer wirklich unfähig oder nur unwillig waren, dieses Wort richtig zu lesen, es bleibt ihr Geheimnis. Jedenfalls hätte die sachlich richtige Übersetzung jede weitere Vermutung in Richtung der antiheidnisch-christlichen Spekulationen verboten !
Zunächst heißt das Wort nur „allrun“, denn ein „i“ ist nicht vorhanden. Man las ein sauberes „l“ als „i“. Allrun könnte zwar wirklich als Frauenname hingenommen werden; wir erinnern uns: Die Übersetzer meinten, es könne sich um die Schwester des Gürtelbesitzers handeln. Auch ist der germanische männliche Eigenname altnord. „Alli / Alle“, angelsächs. „Alla“, althochd. „Allo“ bezeugt, doch würde ich eher an den Begriff „alle Runen“ denken.
Die erste von der Norm abweichende Auffälligkeit des Wortes besteht aus den beiden Verlängerungen des Abstriches des „a“ ( ), wodurch ein binderuniges „h“ zwischen den Senkrechten des „a“ und des folgenden „l“ entsteht. Diese zwei Verlängerungen sind durch Neuansatz des Griffels bewußt gezogen worden; die Lupenbetrachtung erweist den Befund. Auf solche Weise entsteht bei Buchstabendrehung das Wort „hal(l)run“, was „Heilrune(n)“ bedeuten könnte. Die Form „hal“ als „heil, gesund, ganz, unverletzt“ zu lesen, ist nicht völlig unmöglich, 9 denn urgerm. „hailiz“, got. „hails“; angelsächs. „hal / häl“ (halig = heilig, halor = Rettung) sind aus älterem „halja-s“ hervorgegangen.
Mit dem Wortanteil „hal“ könnte aber auch „geheim, verborgen“ gemeint sein. Das neuhochd. „hehlen“, mittelhochd. „häle“, althochd. „halingon = heimlich“ sind aus einer Wortwurzel „hal“ entstanden. Es muss letztlich offen bleiben, ob der Runenritzer mit dieser Silbe „heil“ oder „heimlich/geheim“ gemeint hat. Beide Möglichkeiten sind gleich gut denkbar.
Bei weiterer Lupenuntersuchung der Inschrift zeigt sich, dass eine feinere, aber exakte Ritzlinie von etwas oberhalb des Abstrichs vom zweiten „l“ (in „allrun“) bis zur Grundlinie geführt wurde; so entstand aus dem „l“ wahlweise ein „u“. Demnach sollte das Wort „allrun/hal(l)run“ ebenso als „alurun“ gelesen werden können. Das oft vorkommende runische Formelwort „alu“ bedeutet „Zauber, Abwehr-/Schutzzauber“. Die Gesamtlesung dürfte also lauten: „Alle Heil- (bzw. Geheim-)Schutzzauber-Runen“.
Am Ende der oberen Zeile wurden zwei kursive „h“-Runen der Begriffsbestimmung „Hagel“ eingeritzt - zusammen mit dem „h“ des dritten Wortes, also dreimal „Hagel“, was als Wunsch des „raschen Verderbens“ auf den Gegner herabbeschworen wurde. Die erste Runenzeile verkündet nach Wort, Buchstabenvariation und Symbolanordnung:
AIGISL ANDI ALL-HAL-ALU-RUN H H
(Der Ahnenspross) Aigisl und (mit Hilfe) alle(r Heil-(bzw. Geheim-) Schutzzauber-Runen (wünschen dem Gegner) jähes Verderben
Wenden wir uns der unteren Runenreihe zu: Das erste Wort ist als „elahu“ = „Elch/ Hirsch“ zu lesen. Auch hier weist wieder eine Besonderheit auf die Bedenken des einstigen Besitzers hin, das Gottessynonym „Hirsch“ ungetarnt aufzutragen. Die visuell erkennbare Buchstabenfolge lautet eigentlich: „ltahu“, was keinen Sinn ergäbe. Die dichte, gleichmäßige Stellung der beiden ersten Stäbe und die unterschiedlichen Griffelansätze bei Ritzung des Winkels über der Senkrechten des vermeintlichen „t“ (des zweiten Buchstabens) zeigt aber, dass als erster Runenbuchstabe ein unvollkommen geritztes ( = ) = „e“, also nicht die Folge „lt“, sondern „el“ gemeint ist. An dieses unvollkommene „e“ wurde in Binderunenmanier ein „l“ angehängt. Auf diese Weise entsteht „elahu“.
Wem diese gegebene Erklärung für die Verfälschung des Buchstabens „e“ nicht ausreicht, der sei auf die gematrische Verständnisebene verwiesen: Das Wort „elahu“ besitzt nur den Zahlwert 70 bei Addition der Runenbuchstaben in urtümlich-linksläufiger ODiNG-FUÞARK-Zählweise. Bei Schreibung „ltahu“ aber erhält man die Zahl 72 mit Quersummenwert 9, welcher die runische Sonnenzahl und die dahinterstehende Sonnenchiffre ( ) darstellt. Auf diese Weise ist die Identität von Hirsch, Sonne und Heil noch einmal mit Hilfe des Buchstaben-Zahlen-Zaubers unterstrichen worden. 10
Der zweite Buchstabenverband in dieser Reihe lautet = „gasokun“ bzw. „gasokuz“ mit der Bedeutung „streiten“. Dass dieses Wort in späterer Zeit und in gelehrten Texten auch die Bedeutung „verdammen“ annehmen konnte, ist unerheblich aus der Sicht eines alemannischen oder fränkischen Kriegers des 6. Jh. Weil in einer fragmentarisch erhaltenen althochdeutschen Bibelübersetzung des 8. Jh. (Monseer-Fragment) das lat. Wort „condemnaberis“ von „condemnare“ = „verurteilen, verdammen“ durch althochd. „gasahhis“ von „gasahhan“ = „streiten“ übersetzt wurde, nimmt man sich die Freiheit, „gasokun“ mit „verdammen“ gleichsetzen zu dürfen. Daran, dass der Bibelübersetzer das lat. „verurteilen, verdammen“ mit dem althochd. „dagegen streiten“ umschrieb, ist nichts ungewöhnliches – dass deshalb aber im unzulässigen Rückschluss das germ. „gasokun“ hier nicht „streiten“, sondern „verdammen“ bedeuten soll, weil dies den eigenen Projektionen besser entspricht, das ist eine geradezu abenteuerliche Erklärung aus der Feder der Philologen. 11
Hinter den beiden Wörtern wurde eine kleine Flechtbandzier angefügt. Wir dürfen davon ausgehen, dass auch dies Bildelement eine symbolische Bedeutung trägt - vielleicht als „Schicksalsgeflecht, Nornengewebe“. Es kommt überaus häufig vor, auch auf Gürtelschnallen, Talismanen, ebenso auf dem heidnischen Grabstein von Niederdollendorf. 12
Im unteren rechten Spangenrand erscheint eine binderunische Inschrift, welche den Eindruck vermittelt, ein Palindrom, also rechts- wie linksläufig bedeutungsgleich zu sein. Recht mühelos sind die Runen „i, k, j“ erkennbar. Doch eine Deutung ist bislang nicht gelungen. Allein die zweimal vorhandene Binderune ( ) = „ik“ = Spätform (eigentlich „ek“) von „ich“ wäre möglicherweise herauszulesen.
Die deutbare Beschriftung der alemannischen Gürtelschnalle von Pforzen würde dieser Untersuchung zufolge lauten:
Aigisl und / mit allen Heil-(Geheim-) Abwehr-Zauber-Runen
(will für den oder unter dem Schutz des) Gotteshirsch(es) streiten
Nun könnte man sich sophistisch streiten, ob der Krieger Aigisl „für/mit“ oder „gegen“ den Gotteshirsch fechten wollte, denn das entsprechende Verhältniswörtchen ist nicht eingefügt. Doch ich meine, dass ein volksreligiöser Alemanne, welcher das heidnische Zauberformelwort „alu“ auf seinem Gürtelschloss trug, ganz fraglos „für“ und nicht „gegen“ seine Gottesmetapher einzutreten kundgab.
Mit einer Sicherheit, die nichts zu wünschen übrig lässt, darf nach inschriftlichem und ikonographischem Befund die christfreie Bestimmung der Spange festgestellt werden. So entsprechen die 18 Zeichen der Sonnen-Runen-Umrandung des Schildfeldes dem Stil der etwa zeitgleichen gotländischen Bildsteine der Gruppe B, z.B. Stein von Rikride, Halla Broa, Ardre sowie den Grabsteinen von Niederdollendorf/Bonn und Leutesdorf/Neuwied. Jenes fränkische Totenmal von Niederdollendorf kommt selbst die Fachwissenschaft nicht umhin, im Katalog der Frankenausstellung auf S. 595 (S. 1) als „germanisch-heidnisch geprägt“ zu bezeichnen. Die Widersprüche und Fehldeutungen liegen offen zutage !
Wir halten mit diesem herrlichen Silberschnallenfund ein wunderbares, starkes Bekenntnis zum germanischen Altglauben in Händen, wofür wir dankbar sind. Nach den jahrhundertelangen, von christlicher Seite betriebenen Bücher- und Menschenverbrennungen, mit denen jede Erinnerung an unser geistiges und kulturelles, religiöses Erbe ausgelöscht werden sollte, sind wir nicht bereit, widerspruchslos die heute betriebene verchristlichende Umdeutung der wenigen germanischen Restfunde hinzunehmen, die durch glückliche Zufälle der materiellen Vernichtung entgingen.
QUELLEN UND ANMERKUNGEN:
01 „Die Franken“, Katalog-Handbuch, Reiss-Mus. Mannheim, Bd. 1+2, 1996
02 G. Heß, „Runenschemel im ZerrSPIEGEL“, in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart, Tübingen, 45. Jg., 1.2.1997
03 „Handwörterb. d. dt. Abergl.“, Bd. 4, 1931/32, S. 90, 97
04 Reitzenstein, in „Vorträge d. Bibl.“ Warburg, 1923/24, S. 162f
05 Paul Herrmann, „Dt. Mythologie“, 1906, S. 362
06 „Handwörterb. d. dt. Abergl.“, Bd. 5, 1932/33, S. 1786
07 G. Heß, „Vom großen Runenarkanum“, in: Sleipnir, Berlin 2. Jg.; Heft 2/1996
08 W. Krause, „Die Runeninschriften im älteren Futhark“, 1966, S. 66
09 W. Krause, „Die Sprache der urnordischen Runeninschriften“, 1971, S. 93+117
10 zur Sonnenrune siehe: G. Heß, „ODING-Wizzod“, 1996, S. 48ff + 149ff
11 s. „Das archäolog. Jahr in Bayern“, 1993, Bayer. Landesamt f. Denkmalspflege, S. 117ff;
sowie „Antike Welt“, Zeitschr. f. Archäologie u. Kunstgeschichte, 25. Jg,, Heft 2/1994, S. 114ff
12 zum Schlingenmotiv s. *10, S. 89ff
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Das Ergebnis der Inschrift-Untersuchung des Runolgen Wolfgang Beck (Friedrich-Schiller-Universität Jena), in: „Futhark. International Journal of Runic Studies 7 (2016, publ. 2017), S. 29-45“, lautet: „Als Zeugnis dient die Runeninschrift auf der Pforzener Silberschnalle der germanischen Heldensage? -Die Runeninschrift auf der Pforzener Silberschnalle wurde auf verschiedene Weise interpretiert Wege. Die beliebteste Interpretation deutet auf einen Zusammenhang mit dem Germanischen hin Heldenlegende oder epische Poesie. seine Interpretation basiert jedoch auf mehreren Annahmen, darüber hinaus gibt es runologische, sprachliche und archäologische Argumente, die man dagegen vorbringen kann. In seiner Arbeit wird untersucht, ob der Anspruch besteht dass die Runeninschrift auf der Pforzener Silberschnalle germanisches Heldentum darstellt Die Legende ist sowohl mit der Textualität, Medialität und Tradition als auch mit der vereinbar Entstehung und Entwicklung von Heldensagen im Allgemeinen. Es lässt sich zeigen, dass die Die Textualität der Inschrift spricht gegen eine solche Interpretation. Ebenso die Art des Mediums und der Übertragung passen nicht zum frühen KontextRunenkundige Kultur. Angesichts der Entstehung und Entwicklung von Heldensagen es kann festgestellt werden, dass die Schlacht angeblich in der Inschrift aufgezeichnet ist (Aigil-Angriff). zusammen mit Aïlrun oder Aigil im Kampf gegen Aïlrun) stellt wahrscheinlich ein Motiv dar kommt häufiger in der Welt der Mythologie vor. also im Kontext der Da es sich um eine Heldenlegende handelt, ist dieses Motiv nicht als originell einzustufen, sondern vielmehr als zufällig oder sekundär. Solange die Semantik von Gasokun nicht bekannt ist mit Sicherheit und solange die Bedeutung der Runenfolge ltahu bestehen bleibt unklar, mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass es sich um die Pforzen-Inschrift handelt enthält zwei voralthochdeutsche Personennamen in einem Kontext, der nicht sein kann weiter erläutert.“