17.02.2024

Widukinddenkmal.JPG

Herford - Der Widukindbrunnen auf dem Wilhelmsplatz wurde 1899 von Bildhauer Heinrich Wefing erschaffen. Widukind stammte aus einem westfälischen Adelsgeschlecht und führte als dux Saxonum, also als Herzog der Sachsen (Rune_Z.png 750 Todes-Rune.JPG 825 - Haft: 786-825), in den Jahren 777 bis 785 den Widerstand gegen den Frankenkönig Karl. Nach seiner Zwangstaufe in der Königspfalz Attigny (785) wurde er bis zu seinem Tod in Klosterhaft auf der Reichenau/Bodensee genommen.

Der Historiker Bernhard Simson (1840-1915) schreibt über den deutschen Helden, aus Sicht fränkischer Parteinahme: „Widukind, der Sachsenführer, der Hauptgegner Karl's des Großen während des ersten Abschnitts des Sachsenkrieges, war ein westfälischer Edeling und Gaufürst, der sich, wie es heißt, durch besonderen Adel des Geschlechts und Reichtum der Besitzungen auszeichnete. […] W. ist von großer Bedeutung als die Seele des Widerstandes der Sachsen gegen die fränkische Herrschaft und das Christentum, der hervorragendste Vorfechter der alten Freiheit und des alten Götterglaubens seines Volkes. Wenn die Sachsen auch keine Einheit bildeten, so übte W. doch nahezu anderthalb Jahrzehnte hindurch einen weitreichenden Einfluss auf seine Volksgenossen. In ihm konzentriert sich ihre Widerstandskraft, die er immer von neuem in Bewegung zu setzen weiß und mit den anderen benachbarten verwandten Elementen in Verbindung bringt. So verdient er es, im Andenken des Volks als Nationalheld neben dem alten Befreier Germaniens, Armin dem Cherusker, fortzuleben, neben dessen Bild das seinige das Portal des westfälischen Ständehauses in Münster schmückt. 

Nur ist es leider mit der Überlieferung über W. schlimm bestellt. Die wirklichen Quellen beschränken sich hinsichtlich seiner Person und seiner Taten meist auf kurze Erwähnungen und Andeutungen, so dass es schwer fällt, sein Bild auch nur im Umriss zu zeichnen. […] Im Sommer 777 hielt Karl der Große die große Heer- und Reichsversammlung zum ersten Mal auf sächsischem Boden, in Paderborn. Auch die Sachsen, besonders die Großen, waren dahin beschieden und in der Tat aus allen Teilen des Landes zahlreich erschienen. Eine große Anzahl ließ sich taufen. Auch erklärten die Erschienenen, wie es schon früher geschehen war, ihre Freiheit und ihr Grundeigentum für verwirkt, wenn sie von dem Frankenreiche, seiner Dynastie und dem Christentum abfallen sollten. Nur der gefährlichste Gegner, W. nebst wenigen Gleichgesinnten war ausgeblieben. Er verharrte im Widerstande und flüchtete sich zu dem heidnischen Dänenkönig Sigfrid. Es ist das erste Mal, dass wir W. erwähnt finden. Da indessen hinzugefügt wird, er habe sich gefürchtet vor dem Könige zu erscheinen, weil er sich vieler Verbrechen bewusst gewesen sei, so ersieht man, dass er an den früheren Versuchen, die fränkische Herrschaft und das Christentum abzuwehren, in ganz hervorragender Weise beteiligt gewesen sein muss. Insbesondere war es wohl sein Werk gewesen, dass im Jahre zuvor, als ein Aufstand in Friaul den König über die Alpen gerufen hatte, die Eresburg (Stadtberge an der Diemel) von den Sachsen zerstört und auch die Sigiburg (Hohensyburg an der Mündung der Lenne in die Ruhr) von ihnen angegriffen worden war. So räumt W. das Feld und bringt sich in Sicherheit, wenn sich im Augenblick keine Aussicht auf erfolgreichen Widerstand zeigt, aber umso fester und zäher behält er sein Ziel im Auge. Es wird auf sein und seiner Anhänger Anstiften zurückgeführt, dass die Sachsen im nächsten Jahr (778) die abermalige Entfernung Karl's, der nach Spanien gezogen war, zu einem wilden Raubzuge benutzten und die Gestade des Rheins von Deutz bis gegenüber Koblenz verwüsteten. Als Karl bei der Rückkehr von dem spanischen Feldzuge auf die Kunde hiervon eilig seine ostfränkischen und alamannischen Mannschaften gegen sie sandte, traten sie zwar sofort den Rückzug an, verwüsteten jedoch auf diesem den Lahngau und die Wetterau und bedrohten das Kloster Fulda, aus dem man bereits die Gebeine des h. Bonifatius flüchtete, bis sie beim Übergange über die Eder eingeholt und geschlagen wurden. Im J. 782 schien das sächsische Land wieder einmal beruhigt, die Unterwerfung vollendet, wieder hielt Karl eine Reichsversammlung auf sächsischem Boden. Sie fand im Juli zu Lippspringe statt und war von den Sachsen zahlreich besucht. Nachdem eine vorläufige Ordnung der kirchlichen Verhältnisse schon früher stattgefunden hatte, wurde nunmehr die fränkische Grafschaftsverfassung auf Sachsen übertragen und sächsische Edelinge zu Grafen ernannt; vielleicht, wenn eine freilich keineswegs sicher begründete Vermutung zutreffen sollte, auch jenes strenge Gesetz erlassen, das jedem ferneren Abfall vom Christentum und Frankenreiche vorbeugen sollte.

Aber W. war auch dies Mal ausgeblieben, er befand sich auch jetzt als Flüchtling in Dänemark. Eine Gesandtschaft des Dänenkönigs Sigfrid, die zu Lippspringe bei Karl erschien, mag sich wohl auf Widukind's Angelegenheiten bezogen haben, erzielte jedoch offenbar kein befriedigendes Ergebnis. So sollte sich denn auch die Annahme, die Unterwerfung Sachsens sei vollendet, als ein trügerischer Wahn erweisen. Gerade jetzt erhoben sich die Sachsen allgemeiner und ungestümer als je. Sobald Karl den Rückweg an den Rhein angetreten hatte, erschien W. wieder auf sächsischem Boden, rief seine Volksgenossen zum Kampfe auf und schwellte ihren Mut mit der Hoffnung auf Befreiung. Wie immer, richtete sich ihre Erbitterung vor allem gegen die christlichen Niederlassungen und Glaubensboten. Einer dieser Missionare, Willehad, der spätere erste Bischof von Bremen, der in den letzten Jahren mit großem Erfolge in dem Gau Wigmodia zwischen der unteren Weser und Elbe gepredigt hatte, sah die Früchte seines Wirkens plötzlich mit einem Schlage wieder vernichtet und musste flüchten. Auch seine Schüler mussten fliehen, insoweit sie nicht dem Aufstande zum Opfer fielen. König Karl hatte unterdessen, noch ohne Kunde von der neuen Erhebung der Sachsen, drei seiner Hofbeamten ausgesandt, um mit einem ostfränkisch-sächsischen Aufgebot die wendischen Sorben zurückzutreiben, welche in Thüringen und Sachsen eingefallen waren. Jetzt wandten sich diese Hofbeamten vielmehr gegen die Sachsen, erlitten aber die schwere Schlappe am Süntelgebirge, bei der zwei von ihnen, der Kämmerer Adalgis und der Marschalk Gailo, nebst einer Anzahl von Grafen und andern vornehmen Männern fielen. W. hatte also für den Augenblick große Erfolge erreicht, wenn auch erst spätere Nachrichten ihn persönlich zum Sieger vom Süntel machen. Die Nachrichten von diesen Ereignissen waren für Karl die unwillkommenste Überraschung. Trotz der vorgerückten Jahreszeit brach er ohne Säumen mit soviel Truppen, als er in der Eile sammeln konnte, nach Sachsen auf und zog bis zur Mündung der Aller in die Weser bei Verden, wohin er die Häuptlinge der Sachsen zur Verantwortung lud.

Allgemein wurde W. als der Anstifter der Empörung bezeichnet, aber er hatte abermals Zuflucht bei den Dänen gesucht. So musste sich Karl mit der Auslieferung der mitschuldigen Anhänger seines zähesten Gegners begnügen. Es folgte jenes entsetzliche, blutige Strafgericht in Verden, dessen Realität nicht zu bezweifeln ist, wenn man es auch für unglaublich erklärt hat, dass der König 4500 Sachsen an einem Tage habe enthaupten lassen. Jedoch brachte auch diese grausame Härte keineswegs die beabsichtigte abschreckende Wirkung hervor. Im J. 783 musste sich Karl mit den Sachsen in den Feldschlachten bei Detmold und an der Hase messen, von denen erst die letztere mit einem entscheidenden Siege des Königs endigte. Ob W. selbst damals wieder nach Sachsen heimgekehrt war und persönlich an diesen Kämpfen teilnahm, bleibt ungewiss. Bezeugt ist es nicht. Vielleicht wandte er sich, nachdem Karl's Sache wiederum siegreich geblieben war, in das Gebiet der Nordalbinger, wo wir ihn später finden, oder auch zunächst zu den Friesen, unter denen er ebenfalls eine Bewegung hervorrief.

Ganz Friesland im Osten und Norden des Flie fiel wieder in das Heidentum zurück. Ähnlich wie früher Willehad aus Wigmodia, musste jetzt Liudger, der nachmalige erste Bischof von Münster, welcher seit sieben Jahren im Ostergau predigte und taufte, flüchten und begab sich, gleich jenem, zunächst nach Rom. Durch diese Verhältnisse sah sich Karl im J. 784 veranlasst, einen abermaligen Feldzug nach Sachsen zu unternehmen. Die Absicht des Königs, in die von den fränkischen Waffen noch wenig berührten nördlichen Gaue vorzudringen und damit einen Hauptherd der Empörung zu ersticken, wurde jedoch namentlich durch Überschwemmungen der Weser vereitelt. Es kam zwar zu einem Übereinkommen mit den Ostfalen in Schöningen, und der gleichnamige Sohn des Königs focht an der Lippe im Dreingau mit seinen Reiterscharen mit Glück gegen die Westfalen. Ein durchgreifender Erfolg schien jedoch nur erreichbar, wenn den Sachsen endlich einmal die Gelegenheit abgeschnitten würde, während der Abwesenheit des Königs und der fränkischen Heeresmacht im Winter und Frühling den Widerstand immer von neuem ins Werk zu setzen. Noch vor Ablauf des Jahres trat der König daher einen neuen Zug nach Sachsen an. Weihnachten 784 beging er im Lager im Lande der Engern an der Emmer, nahe bei der Schiederburg. Von da rückte er verwüstend bis nach Rehme oberhalb der Porta Westfalica und nahm endlich, als die Jahreszeit und Überschwemmungen ihn umzukehren nötigten, sein Winterquartier in der Eresburg. Auch seine Familie ließ er sich nachkommen. Das Heer ward in der Umgegend in Baracken verteilt, auch dann aber einzelne Heeresabtheilungen auf Streifzüge in das Innere des Landes ausgesandt, an denen bisweilen der König selber sich beteiligte. Im Juni 785 folgte eine Heerversammlung zu Paderborn, an der auch die Sachsen teilnahmen. Von da aus zog Karl weiter in das Land, ohne irgendwo auf Widerstand zu stoßen. Er gelangte in den Gau Dersia, zwischen der oberen Hase und Hunte, dann überschritt er die Weser. Das Land wurde verwüstet, die Befestigungen und Verhaue der Sachsen zerstört. Als der König in den Bardengau, am linken Ufer der Elbe, kam, erfuhr er, dass W. und Abbio, ein anderer sächsischer Großer, der Widukind's Schwiegersohn gewesen sein soll und jedenfalls damals sein hervorragendster, nächster Genosse war, sich im Gebiete der Nordalbinger befänden. Der weitere Verlauf der Dinge zeigt, dass Karl besonders viel daran lag, den Widerstand des zähesten Gegners zu beseitigen, um das Übel an der Wurzel zu fassen, und dass Widukind's Glauben an die Sache, die er bisher verteidigt, nunmehr gebrochen war.

Der König entschloss sich zu dem Versuch, W. und Abbio zu friedlicher Unterwerfung zu bewegen. Er knüpfte Unterhandlungen mit ihnen durch andere Sachsen an und ließ sie auffordern, sich ohne Furcht bei ihm einzufinden. Auf ihr Verlangen, Bürgschaft für ihre Sicherheit und Straflosigkeit zu erlangen, ging er ein und verpflichtete sich ihnen Geiseln zu stellen, wogegen sie versprachen, im Frankenreich vor ihm zu erscheinen. Es mochte ihnen leichter scheinen, die Unterwerfung unter den Frankenkönig und das Christentum dort, fern von der Heimat, zu vollziehen. Nachdem ihnen die Geiseln durch einen fränkischen Hofbeamten, Amalwin, zugeführt waren, erschienen W. und Abbio in der Tat in Attigny an der Aisne, einer alten fränkischen Königspfalz in der Champagne, an Karl's Hoflager und empfingen hier nebst einer Anzahl von Genossen, welche sie begleitet hatten, die Taufe. Karl hob seinen langjährigen gefährlichsten Feind selbst aus dem Taufwasser und ehrte ihn durch reiche Geschenke [so lautet die unglaubwürdige Legende].

Es geschah noch im J. 785, vielleicht am Weihnachtsfeste. Alle Umstände lassen die außerordentliche Bedeutung des Mannes, mit dessen Unterwerfung diejenige Sachsens vollendet zu schein schien, klar hervortreten. Karl sandte die Kunde von seinen großen Erfolgen durch den Abt Andreas von Luxeuil an den Papst Hadrian I. und ließ ihm den Wunsch ausdrücken, er möge ein allgemeines christliches Dankfest anordnen, welches der Papst denn auch auf den 23., 26. und 28. Juni 786 ansetzte. Zeitgenossen sahen in dem Geschehenen den Abschluss des Werkes, das unter Gregor dem Großen mit der Bekehrung der Sachsen in Britannien begonnen hatte.

Dennoch sollte der Sachsenkrieg später wieder aufleben und das Ziel, an dem man jetzt bereits zu stehen glaubte, erst etwa zwei Jahrzehnte später erreicht werden. Aber W. hat keinen Teil mehr daran gehabt. Er verschwindet seit seiner Taufe aus der Geschichte, jedoch Alles weist darauf hin, dass er seinem Gelübde treu blieb und weder in das Heidentum noch seinen Freiheitstrotz zurückfiel. Wahrscheinlich ist er nach der Taufe nach Sachsen heimgekehrt, während die Annahme, dass Karl ihn nun, wie schon früher andere sächsische Edelinge, zum Grafen in einen sächsischen Gau eingesetzt habe, mindestens der sichern Begründung ermangelt.

Dürften wir einer Nachricht aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts Glauben schenken, so würde W. in der Zeit nach seiner Bekehrung Güter in der Gegend von Buddonfeld (vermutlich Büdefeld, ein jetzt ausgegangener Ort in der Gegend von Corbach) besessen und sich dort bisweilen aufgehalten haben. In einer der jüngeren Lebensbeschreibungen Liudger's wird nämlich erzählt, Liudger habe, als er einmal durch den Hessengau zum Hofe reiste, einem Manne das Leben gerettet, der wegen eines an dem sächsischen Herzog Widukind verübten Pferdediebstahls zum Tode verurteilt und gesteinigt worden war. Liudger, heißt es, kam an der Richtstätte vorbei, wo man den Gesteinigten für tot hatte liegen lassen; da er jedoch erfuhr, dass es ein Christ sei, ließ er W. um die Erlaubnis bitten, den Leichnam beerdigen zu dürfen, die er auch erhielt. Er ließ also die zerstückelten Glieder in einem Mantel sammeln, bemerkte jedoch während der Bestattung, dass noch Leben in dem Körper sei, und nachdem die Wunden des Mannes verbunden waren, genas derselbe in kurzer Zeit. Noch jetzt, fügt jener Biograph Liudger's hinzu, stehe an jenem Orte ein steinernes Kreuz, welches die Einwohner zum Andenken an dies Wunder errichtet hätten, und nach dem Namen jenes geretteten Mannes, Buddo, heiße die Stätte das Buddonfeld. Es könnte für die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung sprechen, dass Pferdediebstahl nach sächsischem Recht in der Tat mit Todesstrafe bedroht war. Auch will der Verfasser das Ereignis von Jüngern des h. Liudger zuverlässig erfahren haben. Bedenkt man jedoch, dass seine Schrift überhaupt an Irrtümern und Fehlern reich ist und dass die angegebene Etymologie des Namens Buddonfeld, welcher Knochenfeld bedeutet, mythisch erscheint, so wird man diese Geschichte, auch wenn man sie ihres wunderbaren Charakters entkleidet, mit zweifelhaftem Auge betrachten.

Man meint ferner aus dem Besitz seiner Nachkommenschaft erschließen zu können, dass W. Güter in der Gegend von Wildeshausen, in Engern u. s. w. besessen habe. Dass er überhaupt Güter hinterließ, scheint durch die Akten einer Synode bestätigt zu werden, welche auf Geheiß König Heinrichs I. und Karl's des Einfältigen im J. 922 in Koblenz stattfand und an welcher u. a. die Bischöfe von Minden, Osnabrück und Paderborn teilnahmen, denn hier wird den Bischöfen das Recht auf den Zehnten von dem Erbgut „des alten Grafen oder Herzogs Widukind“ und seiner Nachfolger zuerkannt - eine Bestimmung, welche möglicherweise zugleich darauf deuten könnte, dass Karl einst W. den Zehnten an die Kirche, der bei den Sachsen besonders unbeliebt und verhasst gewesen war, erlassen hatte.

Über die Nachkommenschaft des alten Sachsenhelden sind wir näher unterrichtet. Ein Sohn Widukind's war Wibreht, der als ein Mann von vornehmer Stellung bezeichnet, besonders aber als höchst eifriger Christ gerühmt wird. Nicht minder war dies Wibreht's Sohn, Graf Waltbert, der am Hofe Kaiser Lothar's I. aufwuchs und dessen Vasall wurde. Mit Empfehlungsbriefen Lothar's an Kaiser Ludwig II., Papst Leo IV. und die weltlichen und kirchlichen Beamten Italiens versehen, wallfahrtete er im J. 851 nach Rom, um zur Befestigung des Christentums in Sachsen Reliquien von dort zu holen, und brachte die Gebeine des h. Alexander, des Sohnes der Felicitas, heim, welche in Wildeshausen an der Hunte, wo er ein Mönchskloster stiftete, ihre Stätte fanden. Ein weiterer Spross dieser Familie, Wigbert, gehörte als Diakonus der Hofgeistlichkeit Ludwig's des Deutschen an und wurde dann Bischof von Verden, wo er von 874 bis 908 als solcher waltete. Einen noch weit helleren Glanz wirft es auf Widukind's Andenken, dass auch Mathilde, die zweite Gemahlin des Sachsenherzogs und späteren Königs Heinrich I., eine Urenkelin von ihm war. So wurde der einstige Führer der Sachsen gegen Karl den Großen ein Ahnherr des sächsischen Kaiserhauses. Wenn dagegen auch eine große Anzahl anderer fürstlicher Geschlechter ihren Ursprung angeblich von W. herleitet, so lässt sich dies fast in keinem Falle wirklich begründen, auch nicht hinsichtlich der billungischen Herzoge von Sachsen oder der Grafen von Oldenburg, oder der französischen Capetinger, als deren Stammvater ein Deutscher Namens Witichin genannt wird, und des Hauses Savoyen, welches immerhin sächsischen Ursprungs sein mag. Nur insofern zählen die Capetinger zur Nachkommenschaft Widukind's, als die Mutter Hugo Capet's eine Tochter der Königin Mathilde war. Überhaupt haben Sage und gelehrte Fabelei sich üppig wuchernd um diese Gestalt gerankt. Bot ihnen doch die Dürftigkeit der geschichtlichen Überlieferung den weitesten Spielraum und wurde diese doch so völlig verdunkelt oder in den Hintergrund gedrängt, dass der sich durch einen mehr als dreißigjährigen Zeitraum hinziehende Krieg Karl's des Großen mit den Sachsen bereits im 10. Jahrhundert zu einem Zweikampf zwischen Karl und W. gemacht wird, oder dass, während Attigny als Ort der Taufe des großen Sachsenführers geschichtlich vollkommen feststeht, noch etwa ein Dutzend anderer Orte als angebliche Stätten dieses Vorganges bezeichnet werden.

So hat die spätere erfinderische Gelehrsamkeit W. eine lange Reihe königlicher Vorfahren angedichtet, unter denen Marbod, Hengist und Horsa erscheinen. Als sein Vater wird Wernekin, als seine Mutter eine rügensche Fürstentochter Gunhild, als seine Gemahlin Gheva genannt, die eine Schwester oder Tochter jenes Dänenkönigs Sigfrid gewesen sein soll, an dessen Hof W. Zuflucht gesucht hatte. Alle diese Angaben haben nicht den geringsten Werth, und noch durchsichtiger ist die Version, welche einen König von Wessex, Edelhard, zu seinem Vater macht. Der durch Ansehen und Einfluss weithin mächtige westfälische Gaufürst wird ferner in der Sage zum Landesherzog, ja zum König, bald allgemein des Volkes und Landes der Sachsen, bald spezieller der Westfalen oder Engern, während die spätere Pseudogelehrsamkeit nicht ruht, bis sie ganz genau seinen Titel als „Herzog zu Engern, Graf von Jülich, Iburg und Minden, Dynasta in Ostphalen“ festgestellt hat. Wenn W. mit Vorliebe als „König von Engern“ bezeichnet wird, so knüpft sich dies daran, dass Enger (welches übrigens nicht in Engern, sondern in Westfalen lag) der Mittelpunkt seiner Verehrung wurde. Zu Enger soll er seine Hauptburg gehabt und eine Kirche erbaut haben. Ebenda wird sein angebliches Grabmal gezeigt. Dorthin sind seine vermeintlichen Gebeine im J. 1822 von Herford, wohin das Stift Enger¶ im 15. Jahrhundert verlegt worden war, zurückgebracht worden, und dort wird auch jährlich an seinem angeblichen Todestage (7. Januar) die sog. Wittekindsspende ausgeteilt. Gesicherte Tatsache ist jedoch nur, dass einer seiner Nachkommen, Graf Thiedrich, der Vater der Königin Mathilde, Enger besaß. Das dortige Kloster ist erst von Mathilde selbst gestiftet und könnte höchstens aus einer von W. errichteten Zelle hervorgegangen sein. Ebenso stammt das Grabmal frühestens aus dem 12. Jahrhundert, Kaiser Karl IV. ließ es im J. 1377 erneuern, seine jetzige Gestalt scheint es sogar erst im 17. Jahrhundert erhalten zu haben.

Außer in Enger soll W. auch noch an manchen anderen Orten Kirchen erbaut haben. Während er in den Karlssagen als Vorkämpfer des Heidentums fortlebt, verherrlicht ihn die Legende vorzugsweise als bekehrten frommen Christen, wie sich ja seine Nachkommenschaft in der Tat eifrig beflissen zeigte, das Christentum in Sachsen zu befestigen. Ohne förmlich kanonisiert zu sein, ist W. sogar beinahe zu einem Heiligen geworden. Besonders hat hierzu der Kölner Karthäuser Werner Rolevinck beigetragen, der im 15. Jahrhundert die Geschichte seiner westfälischen Heimath mit warmer Liebe schrieb. Aber auch Bolland hat W. in den Acta Sanctorum berücksichtigt.

Abgesehen von den Erwähnungen Widukind's in den großen fränkischen Reichsannalen (den sog. „Annales Laurissenses maiores und Annales Einhardi“) und anderen Jahrbüchern jener Zeit kommt vornehmlich die Translatio s. Alexandri als Quelle über seine Nachkommenschaft in Betracht. Man hat diese Schrift nicht unpassend als ein Familien-Dokument seines Hauses bezeichnet, und sie spiegelt auch gewissermaßen den schroffen Übergang von dem alten, starren Heidentum zu gläubigem Christentum wieder, der Widukind's eigenes Leben bezeichnet. Die Einleitung ist auf Veranlassung des Grafen Waltbert von Rudolf von Fulda verfasst, die Fortsetzung nach Rudolfs Tod (865) von seinem Schüler Meginhard hinzugefügt. Zweifel an diesem Sachverhalt, welche A. Wetzel in seiner Untersuchung der Translatio (Kiel 1881) aufgeworfen hat, sind nicht überzeugend begründet. Besonders interessant ist, daß Rudolf, ein namhafter Schriftsteller seiner Zeit, die Zustände der Sachsen in ihrer Heidenzeit hier an der Hand der Germania des Tacitus schildert. - Während später die gelehrte Fabelei über W. in einem fantastischen „Leben Wittekind's des Großen“ (Dresden 1775) ihren Höhepunkt erreichte, ist die Überlieferung über ihn in neuerer Zeit sorgfältig geprüft und gesichtet worden in den Schriften von Wilhelm Diekamp, „Widukind, der Sachsenführer, nach Geschichte und Sage“. Eine gekrönte Preisschrift. I. Teil (Inaugural-Dissertation). Münster 1877 und von Jos. Dettmer (Missionar in Enger), „Der Sachsenführer Widukind nach Geschichte und Sage“. Würzburg 1879. Diekamp's Schrift verdient unbedingtes Lob, ist aber nicht abgeschlossen. Auch die Arbeit von Dettmer ist als sehr fleißig anzuerkennen, legt jedoch an die Überlieferung nicht durchweg den Maßstab streng wissenschaftlicher Kritik an. - Soweit die Ausführungen von Bernhard Simson. 

Heutige Erkenntnisse - Widukinds Klosterhaft

Die Reliefplatte zu Enger des Sachsenführers Widukinds, die einst aufrecht an einer Wand stand, stammt aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Sie gilt als eines der frühesten großplastischen Werke in Deutschland. Dargestellt ist Widukind mit „Lilie“, Zepter und Spangenkrone. Die Reliefplatte liegt auf dem Grabmal, der Tumba. Sie sei ursprünglich aus Holz gewesen und habe vor und nicht hinter dem Altar gestanden. Kaiser Karl IV. (1316-1378), aus dem Geschlecht der Luxemburger, der auf seinem Weg von Bielefeld nach Minden einst Station in Enger machte und als Bewunderer „Karls des Großen“ galt, habe das verfallene Grab Widukinds in der Stiftskirche wieder in Ordnung bringen lassen. So wurde aus der Holz- eine Steintumba. „Die ursprüngliche Inschrift, die aus dem Jahr 1150 stammt, wurde dabei übernommen und in Stein gemeißelt“, gibt die Wissenschaft an. „Hier ruhen die Gebeine eines Helden ...“ steht dort geschrieben. Von Widukind noch keine Rede, der taucht erst in der jüngeren Inschrift auf, die aus dem 16. Jahrhundert stammt. Dort wird er als Anführer der „zwölf sächsischen Stämme“ bezeichnet. Im hölzernen Schrein unmittelbar neben dem Grabmal befinden sich noch heute die Gebeine, von denen man Jahrhunderte glaubte, es seien diejenigen Widukinds. Erst in den 1970er-Jahren stellte sich einwandfrei heraus, dass es sich dabei um die einer jungen Frau handelt.

Wenn Widukinds Gebeine nie in dem Grabmal hinter dem Altar gelegen haben, wo dann? Wer weiter nach der Stelle fahndet, wo der einstige Sachsenheld begraben liegt, musste vor dem Altar suchen. Hier entdeckten Archäologen in den 1970er-Jahren drei symmetrisch angeordnete Gräber. In jedem lag ein Skelett. Das mittlere Grab mit der Grabfundnummer 463 liegt in herausgehobener Position direkt vor dem Altar. Es müsse sich um eine bedeutende Persönlichkeit gehandelt haben. „Archäologen sprechen von Stiftergräbern“, sagt Fachfrau Regine Krull. Im Jahr 2001 wurden die Skelette der drei Gräber genauer untersucht. Anhand der DNA konnte die Uni-Göttingen verwandtschaftliche Beziehungen der beiden kräftigen, erwachsenen Krieger und eines jungen Mannes nachweisen. Was bleibt unter dem Strich? „Es gibt mehrere Hinweise, dass Widukind hier in der Stiftskirche - gemeint ist die zentrale Fundstelle vor dem Altar - begraben ist“, meint R. Krull. Die Gräber seien um 800 in der Kirche angelegt worden. „Das passt zeitlich mit Widukind.“ In der ältesten Mathilde-Vita werde Widukind als Stifter der Kirche genannt. Und Archäologen sprächen von Stiftergräbern.

Doch wie wir aus den Forschungsergebnissen des Historikers Prof. Dr. Gerd Althoff wissen („Der Sachsenherzog Widukind als Mönch auf der Reichenau. Ein Beitrag zur Kritik des Widukind-Mythos“ in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 17, 1983, S. 251-79) starb Widukind als Gefangener des Frankenkönigs Karl im Bodenseekloster Reichenau. Vier Belege in den Verbrüderungsbüchern des Bodensee-Klosters Reichenau und dem Reichenauer Nekrolog beziehen sich ersichtlich auf den Mönch namens „Uuituchind“ und „Wituchi“, dem der Titel „mon(achus)“, also König und zu seinen Eintritt im Jahre 786 der klosterintern-ironische Zuname „dominator“ (Herrscher) beigestellt wurde. Sein Sterbetag war offenbar der 12.12. 825. Althoff schreibt: „Alle Indizien stimmen also überein und sichern die Schlußfolgerung, dass es sich bei dem Mönch Widukind um ein Mitglied des Reichenauer Konvents handelte, das um 786 die Profeß ablegte und danach noch mindestens bis zum Jahre 825 im Reichenauer Konvent lebte, ohne eine geistliche Weihe zu erhalten.“ Widukind litt also noch rund 40 Jahre nach seinem erzwungenen Ordens-Eintrittsgelübte im Reichenauer Konvent. Althoff: „Geht man von der Annahme aus, dass Widukind sich etwa 30-jährig taufen ließ und somit als 70-jähriger verstorben wäre, dann widerspricht kein Faktum einer Identifizierung des Reichenauer Mönches Widukind mit dem Sachsen-Herzog.“ Dieser verstarb ohne in der Klosterhierarchie, wie es damals bei frommen intelligenten Mönchen üblich war, aufzusteigen.

Aus dem Umstand geht hervor, dass Widukind als Zwangs-Mönch nie seinen Heidenglauben aufgegeben hat, kein echter Christ wurde, also nie „zu Kreuze kroch“. Im Spätjahr 786 ist Karls Reichenau-Besuch, auf der Durchreise nach Italien, so gut wie sicher, er hat demnach seinen Gefangenen - mit 12 oder 13 weiteren Sachsen - (die zum kollaborieren ersichtlich nicht bereit waren) persönlich abgeliefert. Neben den Reichenauer Priestermönchen erscheint in den Listen eine Gruppe von 14 einfachen Mönchen, die offenbar bis ins hohe Alter keinen Weihegrad erhielten. Karl verfuhr mit Widukind nicht anders als wie mit dem letzten Bayernherzog Tassilo III. und dem Langobarden-König Desiderius, den er bis zum Lebensende in die Klosterhaft von Corbie steckte. Kloster Reichenau war wegen seiner Insellage ein ideales Gefängnis, in welchem, wie der Mediävist Prof. Dr. Alfons Zettler feststellte, beispielsweise ebenso der Slawenapostels Methodius und seine Gefährten, einige Zeit inhaftiert wurden. Auch Abbi, der treue Freund und ostwestfälische Kampfgefährte Widukinds, teilte die Kosterhaft bis zum Tode. Er scheint zeitweise im Kloster St. Wandrille in der Normandie gefangen gehalten worden zu sein, findet sich dann jedoch im Reichenauer Gedenkbuch der verstorbenen Sachsen zur Zeit von König Heinrich I..

In der altehrwürdigen Stiftskirche in Enger ruhen also - höchstwahrscheinlich - seine sterblichen Überreste. Im Widukind-Museum neben der Kirche nimmt die Inszenierung der Ausgrabung in der Stiftskirche einen breiten Raum ein, und ein Duplikat der Grabplatte ist im Museum ebenfalls ausgestellt. Nicht von ungefähr ist Widukinds Grabplatte in der Stiftskirche durch Glas und eine Alarmanlage geschützt - sie ist zu wertvoll. „Das Relief gilt als eine der frühesten großplastischen Werke in Deutschland. Kunsthistoriker datieren sie auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts“, erläutert Museumsleiterin Regine Krull. Es gibt nur wenige derart gut erhaltene Grabplastiken aus Widukinds Zeit, dem frühen Mittelalter. „Mir ist in Deutschland nur eine einzige ähnlich gut erhaltene Grabplastik bekannt“, gibt Krull korrekt an. Diese ist im Merseburger Dom nahe Magdeburg in Sachsen-Anhalt zu finden und stellt Rudolf von Schwaben oder auch Rudolf von Rheinfelden dar. Sie stammt etwa aus dem Jahr 1080 und weist viele Ähnlichkeiten zur Grabplatte Widukinds auf. „Bei beiden handelt es sich ein Sandsteinrelief auf einem Grabmal, beide zeigen die lebensgroße Gestalt eines jungen Mannes im Herrschergewand“, beschreibt die Museumsleiterin die steinernen Zeitzeugen. Wie Widukind trägt auch Rudolf eine Spangenkrone, er trägt ein herrschaftliches Gewand und auch die Füße sind ähnlich dargestellt. Anders als Widukind - auf der Grabplatte mit Segnungsgeste - trägt Rudolf einen Reichsapfel und ein Zepter in Händen. „Er war als Gegenkönig zu den Saliern vom Papst eingesetzt und nicht im Besitz der Reichsinsignien“, so Krull, daher auch keine „richtige“, sondern die Spangenkrone. „Von den Sachsen war er gleichwohl als Vorbild und Identifikationsfigur anerkannt“, weiß Krull. Ähnlich wie Rudolf ist auch Widukind kein „richtiger" König gewesen, wurde aber als solcher von den Sachsen verehrt. „Sein Grabbild könnte daher aus sächsischer Tradition heraus entstanden sein“, wird vermutet. Die linke Hand Widukinds ist unter dem Umhang verhüllt. „Eine klassische Unterwerfungsgeste“, erläutert sie weiter. Die Lilie - bei beiden Figuren am Zepter zu sehen - stehe für Reinheit, Keuschheit und Tugendhaftigkeit. „Es könnte auch ein Zeichen für die Unterwerfung Widukinds vor Karl dem Großen sein“, mutmaßt Frau Regine Krull. Seit dem 11. Jahrhundert ist die Lilie im Wappen von Frankreich zu finden. Die „Lilie“ kommt aus der orientalischen Tradition der heiligen Dattelpalme, die als Herrscherzepter, im verkleinerten Maßstab Eingang fand. Erst später interpretierte die Kirche die Adjektive Reinheit, Keuschheit und Tugendhaftigkeit hinein. Vor dem ersten Kreuzzug (1096-1099) wird man kein nordeuropäisches „Lilien“-Symbol finden. 

 Widukinds Finger-Symbolik

Die rechte Hand Widukinds gibt ein Rätsel auf. Der abgeknickte Mittelfinger, hinter den Zeigefinger verschränkt, könnte auf eine religiöse Geste hinweisen, räselt die Museumsleiterin. Für „gewagt“ halten Regine Krull und andere Historiker die Theorie der Historikerin und Anthropologin Professor Hedwig Röckelein, die Gebeine könnten verwechselt worden sein. Während der Ausgrabungen wurden Gebeine von insgesamt drei nebeneinander bestatteten Personen gefunden - bei einem Toten wurde eine Fingerfraktur festgestellt. Krull: „Eine Verwechslung der Gebeine ist eher ausgeschlossen. Im Mittelalter wurden keine individuellen Merkmale abgebildet, sondern das Amt und der Würdenträger mit seinen Insignien“. Letztendlich gesichert ist es nicht, dass es sich um Widukinds sterbliche Überreste handelt, die in Enger gefunden wurden. Dass es sich bei der Figur auf der Grabplatte tatsächlich um Widukind handeln könnte, belegen zwei Inschriften in lateinischer Sprache, die an den Seiten der Umrandung eingraviert sind. „Der äußere Text entstand vermutlich zeitgleich mit der Grabplastik“, erläutert Krull. „Er wurde vom ursprünglich hölzernen Sockel auf die steinerne Tumba übertragen, wie wir schon hörten. Der Text ruft auf zum Gebet am Grab und schreibt dem Toten wundersame Heilkräfte zu, ohne sie namentlich zu nennen“, heißt es. „Die innere Inschrift stammt vermutlich aus dem 16. Jahrhundert. Widukind wird hier als König des Stammes der Engerer und als Gründer und Förderer des Stiftes hervorgehoben. Mathilde und Heinrich waren in der Erinnerung der Engeraner nicht mehr präsent“.

Widukind_1a.JPGWidukind-Grabplatte mit rätselhafter Fingerhaltung

Bernd Herrmann, Hedwig Röckelein, Susanne Hummel haben eine Untersuchung vorgelegt: „Widukinds Fingerzeig? Konstruktionen und Dekonstruktionen um eine Geste“, Quelle: Westfälische Zeitschrift 153, 2003 / Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ URL: http://www.westfaelische-zeitschrift.lwl.org

Darin wird ausgeführt: „Der Sachsenherzog Widukind, bekannter Widersacher Karls des Großen, wurde durch seine Taufe 785 als politischer Führer gegen Karl bedeutungslos. Anschließend verstummen die Quellen über ihn. Vermutlich verbrachte er den Rest seiner Tage unauffällig als Graf und Gerichtsherr im Dienste seines Taufpaten Karl in Westfalen. Die fränkische wie die nachfolgende Geschichtsschreibung hatten, nach Einsicht Freises, Interesse an einer „geschönten“ Darstellung der problematischen sächsisch-heidnischen Vergangenheit und legten damit einen der Grundsteine der Legenden und Mythen um Widukind. Frühzeitig wird sein Gedenken institutionalisiert und erlebte im 20. Jahrhundert unter den Nationalsozialisten ein besonderes Interesse. Jede memoria-Bestrebung konzentriert besondere Aufmerksamkeit auf die Beibringung der authentischen Überreste der historischen Person. In solchen Uberresten, sei es ein Skelett oder nur noch Teile davon, konkretisieren sich die Eigenschaften einer Reliquie. Allen Anstrengungen zum Trotz ist es bis heute nicht gelungen, eines der Enger-Skelette eindeutig Widukind zuzuschreiben. Widukind soll 806 oder 807 verstorben sein. Seine Beisetzung in einer Grablege in Enger wird vermutet. Uber dieser Dreigräberanlage im Chor der heutigen Kirche wurde im Zusammenhang mit der Gründung des Stiftes Enger 948 durch die Urenkelin Widukinds, Mathilde, die Stiftskirche errichtet. Mathilde vermutete offenbar in einem der drei Gräber dasjenige ihres Urgroßvaters. Mathilde ist in ihrer Kindheit in Herford ab 900 nachweisbar, sie stirbt 968. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Urenkelin bei der zeitlichen Nähe zum Tode des Urgroßvaters von wenig mehr als 100 Jahren und wegen ihrer Kindheit
im Lande Widukinds, über das kollektive Gedächtnis der Zeit hinaus noch Kontakt zu gesicherter Überlieferung über ihren Vorfahren und seine Grabstelle hatte. Sofern man, entgegen der schlüssigen Überlegung Freises, die Hinweise auf Widukinds Anwesenheit in Westfalen nach 785 beibringt, mit Althoff sein Verschwinden hinter Reichenauer Klostermauern annehmen will, entfiele jede Hoffnung auf auch nur ein Minimum an authentischem Zusammenhang der Grablege und der Stiftskirche mit Widukind. Als Konsequenz dieser Uberlegung befände sich Mathilde unter den ersten und namhaften Opfern der Widukind-memoria. Althoffs Verdacht scheint nun allerdings nicht mehrheitsfähig zu sein. Freilich könnte Mathilde ebenso gut Opfer einer Legendenbildung geworden sein, ohne dass der Ahn sein Ende am Bodensee gefunden hätte. Die Widukind zugeschriebene Grablege wurde in der ersten Hälfte des 12 . Jahrhunderts mit einer Platte ausgestattet, deren Gisant [liegende Figur] sich erhalten hat. Er zeigt Widukind als weltlichen Fürsten mit einer erhobenen rechten Hand, die auf den ersten Blick wie ein bekannter mittelalterlicher Gestus erscheint. Abweichend von der häufig in der Kunstgeschichte abgebildeten oder dargestellten Geste, die dem Betrachter die erhobene Innenfläche der Finger und Hand entgegenhält, ist bei diesem Gisant der Mittelfinger der rechten Hand abgewinkelt und vor dem ausgestreckten Zeigefinger vorbei gegen die Körpermitte hin orientiert. Vielleicht bewegt sich die Spitze des Zeigefingers auf die Daumenspitze zu, als wollten beide Fingerspitzen sich berühren. Der Finger ist dabei aber völlig unphysiologisch zur Daumenseite hin gebeugt, diese Bewegungsrichtung steht ihm anatomisch nicht zur Verfügung.“ 

Diese Bewegung des Mittelfingers die zur innenflächigen Kreuzung vor den Zeigefinger führt ist anatomisch nicht möglich. Die weiteren Ausführungen von Herrmann, Röckelein und Hummel können wir getrost überblättern, denn sie beziehen sich auf Spekulationen einer Fingergestik der „Ringhaltung“, die bestenfalls angedeutet, doch nicht gegeben ist. Die Finger auf der Grabplatte bilden keinen geschlossenen Ring aus Mittelfinger und Daumen ! Ebenso ist der Spekulation zunächst mit Vorsicht zu begegnen, Widukind hätte einen gebrochenen Mittelfinger gehabt, was man also Generationen später noch hätte darstellen wollen. Das scheint zunächst abwegig, wenn auch ein vermutlich gebrochener Fingerrest in der Grabanlage gefunden wurde.  

Eine ganz andere Erklärung bietet sich an: Widukind wurde genötigt dem Schlächter-Karl, der sich anschickte, die heidnisch-volksgläubigen Sachsen - durch Abschlachtungen und Deportationen - auszurotten, den Unterwerfungs- bzw. den Treueid zu schwören. Das ist definitiv bekannt. Was wir seit den Forschungen von Gerd Althoff sicher wissen, ist die Tatsache, dass Widukind sich möglicherweise nur mit dem Mund, aber nicht real unterwarf, was er büßen musste mit 40-jähriger Kosterhaft auf der Reichenau, bis in den Tod. Der Schwur des Widukind war also genau genommen so unehrlich (um sein Volk zu retten), wie die Zusage des Frankenkönigs Karl es war, ihn nicht bestrafen zu wollen, bei Erscheinung in Attigny. Die Nachkommen Widukinds waren mit Sicherheit so gespalten wie wir heute es auch noch sind, es gab darunter echte Kirchenchristen, wie wir erfahren, und es gab treugebliebene Sachsen-Heiden, die die Kirche und die Franken als Invasoren und Fremdlinge hassen mussten. Der Schöpfer der Widukind-Plastik muss vor dem Problem gestanden haben, beide Parteien zufriedenstellen zu wollen. Er tat es durch die gewählte Fingerhaltung des Helden, denn als Held galt Widukind den beiden Seiten gleichmäßig, jede mit einer anderslautenden Betonung. Den einen war er, fränkischer Propaganda gemäß, als freiwilliger, einsichtiger Christentäufling und den anderen galt er als treuer, unbeugsamer Heide.

Die Bedeutung des unnatürlich verbogenen oder gebrochenen Mittelfingers reicht aber noch viel weiter. Es ist der längste Finger der menschlichen Hand, so dass ihm eine Sonderstellung in Form der personellen Identifikation zukommt. Das Zeigen des Mittelfingers bedeutet: „Ich dominiere Dich!“, so dass in Deutschland das Zeigen des Stinkefingers regelmäßig den Tatbestand der Beleidigung erfüllt (§ 185 StGB). Nach Angaben unter Bezugnahme des Anthropologen Desmond Morris, berichtete bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus, dass germanische Stammesangehörige den Mittelfinger drohend und verächtlich gegenüber römischen Soldaten erhoben. Ebenso wurde dargestellt, dass ein pantomimischer Tänzer in der Zeit Kaiser Augustus’ ausgepeitscht und verbannt wurde, nachdem er einem ihn kritisierenden Zuschauer den Mittelfinger gezeigt hatte. Der Mittelfinger ist also ein Sinnzeichen des Ego und ein verrenkter oder gebrochener, mithin ein Zeichen des geschändeten Ichs einer überwundenen Person. Es wäre demzufolge naheliegend vorstellbar, dass hochkarätigen Gefangenen der Karolinger-Zeit der Mittelfinger symbolisch gebrochen wurde, vor Einlieferung in die lebenslange Schmachhaft. Träfe diese Deutung zu, wäre der Fund des gebrochenen Fingers tatsächlich ein Indiz für die Zugehörigkeit zur Widukind-Grablege. 

Für seine kirchenchristliche Nachkommenschaft zeigt die Widukind-Grabfigur das Kreuzzeichen, so dass jeder zu sehen vermochte: „Er hat sich zum seligmachenden Glauben bekehrt und ist uns als Vorbild vorausgegangen“. Ein jeder Heide aber wusste auch, dass sich ein Mittelfinger nicht vom Körper weg, zum Daumen hin, verbiegen lässt und man ihn, zu solchem Zwecke, zerbrechen muss. Was als klares Signal für den nicht nachlassenden Widerstand des Volkshelden zu werten war. Und darüber weit hinaus ist es eine - für die feineren Denker - Demonstration, wie es zur „Verkristung“, zum Kirchenchristentum gekommen ist: Allein durch gewaltsamen Bruch des Egos, zur Glaubensnivellierung der Massen auf ein unglaubhaftes Quäntchen eingeprügelten und albernen Niveaus. Und genau das macht die Aktualität und dauerhafte Historizität der Widukind-Figur aus, nämlich die Mahnung, dass der Kampf um die deutsche Seele noch kein Ende gefunden hat, dass das Ringen um Vernunft und Gedankenfreiheit nie ad acta gelegt werden kann und darf ! In diesem Sinne würden uns die geschändeten Schwurfinger des Widukind zum Fanal der Rückbesinnung auf altdeutschen Eigensinn und das unveräußerliche Selbstbestimmungsrecht.