Langobardische Kirchenkunst: Des Lebensbaumes Vermählung mit dem Kreuz 
 
 
Ein bedeutender deutsch-nationaler Verlag hat das längst überholte und schon zu seiner Entstehungszeit irreführende Buch von Hans Wilhelm Hammerbacher „Irminsul und Lebensbaum“ neu aufgelegt. Es ist bedauerlich, dass wohl aus kommerziellen Gründen, einem falsch verstandenen Patriotismus oder reiner Ignoranz immer wieder die alten Unsinnsbücher zwar nationalgesinnter aber unfähiger Laienprediger ungeprüft - mit neuen ansprechend bunten Schutzumschlägen versehen - wie Schwindelpackungen verschachert werden. Ich meine, ein Verleger hat in erster Linie die heilige Pflicht der wissensmäßigen Heraufbildung seiner Leserschaft !
 
Die Irminsul, das altsächsische Heiligtum, wurde 772 vom Frankenkönig Karl zerstört, darüber informieren die „Annales Laurishamenses mai seuregni“ die Lorscher- od. Reichsjahrbücher vom Jahre 772. Da heißt es über Karls Eroberung: „...rückte von da aus zum ersten Male in die Gebiete Sachsens ein, nahm die Feste Eresburg ein, gelangte bis zur Irminsul, zerstörte das Heiligtum selbst und nahm das Gold und Silber, das er dort fand, hinweg.“ Der Mönch und Annalenschreiber Ruodolf von Fulda, gest. 865, verfasste eine Beschreibung der „Übertragung der Gebeine des hl. Alexanders von Rom nach Wildeshausen“, darin lautet eine Stelle: „Frondosis arboribus fontibusque venerationem exhibebant. Truncum quoque ligni non parvae magnitudinis in altum erectum sub divo colebant, patria eum lingua Irminsul appellantes, quod latine dicitur universalis columna, quasi sustinens omnia.“ Zu deutsch: „Grünen [lebenden] Bäumen und Quellen zollten sie [die Sachsen] Ehrfurcht. Einen hölzernen Schaft von ansehnlicher Größe, senkrecht aufgerichtet unter freiem Himmel, verehrten sie kultisch, in ihrer heimischen Sprache sie Irminsul nennend, was auf lateinisch Weltallsäule heißt, sozusagen alles stützend.“ Irmin scheint im Germanischen ein Eigenschaftswort gewesen zu sein und bedeutet: groß, erhaben, verehrungswürdig, überirdisch, unendlich. Im Hildebrandslied des 8. Jahrhunderts, welches auch in Fulda aufgezeichnet wurde, heißt der allwaltende Gott „Irmingot“.
 
Ruodolf stellt also die „grünen Bäume“ („frondosis arboribus“), denen die Sachsen Ehrfurcht zollten, der Irminsul, der verehrten „hölzerne Säule“ („truncus ligni“), gegenüber. Der Begriff „truncus“ in der Bedeutung „Säulenschaft“ findet sich beispielsweise bei Vitruv, einem röm. Architekten, der zur Zeit Kaiser Augustus‘ ein Werk „De architectura“ schrieb. Die älteste Abschrift entstammt dem Kloster Fulda (jetzt Codex Harleianus im Brit. Mus. London), so dass der vielseitige Ruodolf dieselbe gekannt haben dürfte. Bäume und Quellen gehören fruchtbarkeitskultischen Sphären an, die Säule aber zur Gedankenwelt des Bauens bzw. kosmotektonischer Spekulationen. Dieses kultische Standbild bezeichnet Ruodolf als „hölzerne Säule“ („truncus“) und vergleicht es mit einer im übertragenen Sinne „steinernen Säule“ („columna“), die das Weltall trägt. Der Begriff Irminsul ist keineswegs ein nur norddeutscher Ausdruck. In zwei Predigten aus Bayern des 12. Jhs. wurden Bekenner des Glaubens als „Fürsten und Irminsule der Christenheit“ bzw. „boume und irminsule der Christenheit“ bezeichnet (Zitate von Herta Kollenz, Graz, in „Festschrift f. Frh. Bolko v. Richthofen“, 1974). Übrigens geht daraus hervor, dass zwar Bäume und Säulen in gewissen Sinnzusammenhängen von ähnlicher Bedeutung sein können, aber natürlich sorgsam zu unterscheiden sind.
 
Trotz der sprachlich klaren Unterscheidung von Baum und Stützsäule werden von Autoren wie Hammerbacher immer wieder Baumdarstellungen in der romanischen Plastik als Irminsul-Bilder fehlgedeutet. Wie kommt es - bei hinreichender sprachlicher Genauigkeit des Quellenmaterials - zu derartigen gedanklichen Unschärfen der Interpreten ? Bäume, gleich welcher Art, eignen sich nicht, um säulengleich eine Kuppel, ein Dach - in diesem Falle sinnbildhaft das Himmelsdach - zu tragen. Symbolbilder müssen stimmen, sonst greifen sie nicht. Hammerbacher geht so weit in der Vertiefung seines gleichmachenden Irrtums, dass er formuliert: Die lebendigen Bäume sind „Zeugen des Lebensbaumsinnbildes“, „Sinnbild der Irminsul“ (S. 134).
 
So zeigt Hammerbacher als Abb. 18 das Flachsteinbild an der Ostapsis des Domes zu Speyer und bezeichnet die beiden Bäumchen mit den Palmblattwedeln und den darüberragenden Spiralhörnchen als Irminsulen. Dazu schreibt Oskar Suffert in „Falsche Irminsulbilder“, „Lipp. Mitt.“ 42, 1973, S. 225: „Unverkennbar zeigt das Bild keine Irminsul, sondern Palmen, und zwar in einer Stilisierung, wie sie in der romanischen Kunst häufiger vorkommt...“ Ähnliche Darstellungen zeigt ein Säulenkapitell der südlichen Querschiffkonche im Speyer-Dom. Auch im Bamberger Dom sind sie zu finden. Für Hammerbacher und seine Nachbeter sind dies alles Irminsulen. Doch solche Volutenhörner die er für die Gabel der sächsischen Firstsäule/Allsäule hält, kommen als Schmuckelemente zu Zeiten und an Gebäuden vor, die man beim besten Willen nicht mit der Irminsul zusammenbringen kann. Ein Pfeilerkapitell aus Bosra könnte Vorbild für jenes von Speyer gewesen sein. Bosra wurde nach der trajanischen Eroberung, 106 n.0, die neue Hauptstadt der röm. Provinz Arabia; die Tempelbauten sind in der 2. Hälfte des 3. Jh. entstanden. Auch Baalbek, das alte Heliopolis, in Coelesyrien gelegen, hat ganz ähnliche Kapitelle; und aus Epidauros ist eines aus dem 4. Jh. v.0 bekannt. Ich wiederhole, was ich schon des öfteren zynisch anmerkte: Wenn das Irminsul-Darstellungen sind, dann wimmelt es im Orient von Irminsulen -, aber etliche Jahrhunderte v o r allem Vergleichbaren in Europa !
 
Franz Klimm („Der Kaiserdom zu Speyer“, 1953, S. 67) hat sich zu dem Relief an der 4. Halbsäule wie folgt geäußert: „Auf einer Trommel der vierten Wandsäule von Norden ist erhaben eingemeißelt die symbolische, figürliche Darstellung des messianischen Friedensreiches nach Jesaias XI, 8 [Kinder unter Palmen spielen mit Löwen und Schlangen.]“ Auch schon Walter Hege und Hans Weigert, „Die Kaiserdome am Mittelrhein Speyer, Mainz und Worms“, 1933, S. 54f, formulierten: „...es sind vielmehr richtige Bäume gemeint, und zwar Palmen, wie auch die für sie oft angewandte Modellierung der Stämme zeigt.“
 
Hammerbacher behauptete (S. 49), „eine tiefere Schau“ habe ihm bestimmt, dass die Irminsul eine oben gegabelte Säule gewesen sein müsse. Sie wäre aus der „Twiste“ hervorgegangen: „Das ist ein Stab, der sich nach oben verzweigt in einen rechten und linken Ast.“ (S. 47) Den Begriff „Twiste“ hat sich Hammerbacher zwar selbst ausgedacht, doch die Gabelstütze der alten Hauskonstruktionen stellte schon Jost Trier in „Irminsul“, „Westfälische Forschungen 4“, 1941, S. 99-133, vor: „Die urgermanische sul war also als Firstsäule in aller Regel oben gabelig.“ Es wäre naheliegend, wenn die Weltsäule des sächsischen Kultes, in gedanklicher Anlehnung an praktische Baukonstruktionen, wie eine gegabelte Firstsäule ausgesehen hätte. Hammerbachers Erörterungen (S. 46): „Widukind von Korvey beschreibt etwa um das Jahr 1000 die Irminsul als Giebelsäule, auf der ein Längsbalken als Weltachse gelegen habe, wie auf dem First eines Hauses“, sind unrichtig; nicht einmal der Name Irminsul kommt bei Widukind vor.
 
Diese Erkenntnis von der Gabelstütze des Germanen-Hauses machte es ja so verlockend, das geknickte Palmbäumchen mit seinen beiden auseinanderstrebenden langen Palmwedeln im Kreuzabnahmerelief des Externsteines als Irminsul zu mißdeuten. Erstmalig unternahm dies allerdings schon G.A.B. Schierenberg in „Der Externstein zur Zeit des Heidentums in Westfalen“, 1879, S. V. Dann haben Bernhard Körner und Egon Weiß dieselbe These vertreten, doch erst Wilhelm Teudt machte sie Anfang der 30er Jahre des 20. Jh. mit seinen Schriften („Germanische Heiligtümer", 1929/1931) populär. Einmal auf falscher Spur, rollte der närrische Irminsul-Wagen in rascher Fahrt immer tiefer in den orientalisch-ikonographischen Palmenwald hinein. 1933 trat der Oberst außer Dienst Karl Maria Wiligut unter dem Pseudonym Weisthor in die SS ein und wurde zum Chef des Departements für Vor- und Frühgeschichte innerhalb des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS ernannt. Der esoterische Zuflüsterer Heinrich Himmlers phantasierte von einem angeblich uralten „Irminenglauben“ seiner Sippe; und hatte vordem schon Teudt zur energischen Irminsulsuche angeregt. Seine Aufgaben innerhalb der SS bestanden darin, Beispiele seiner „Ahnenerinnerungen“ zu Papier zu bringen, seine Familientraditionen mit Himmler zu besprechen und für Kommentare über prähistorische Themen zur Verfügung zu stehen. Er, der wiederum von dem Runenfantasten Guido List und dem christo-rassistischen Lanz v. Liebenfels beeinflusste Ariosoph, sorgte für die Ausbreitung des falschen Irminsul-Bildes, der Dattelpalme aus dem Externstein-Kreuzabnahmerelief, innerhalb des „Ahnenerbes“, der SS und mithin im nationalsozialistischen Staat.
 
Hammerbacher schreibt auf Seite 108: Die Irminsul „ist nach den Ergebnissen der Forschung und den Ausführungen in den vergangenen Abschnitten dieses Buches allem Anschein nach ein Gebilde mit vielfältigem Blatt- und Rankenwerk, teilweise mit Tieren an ihrem Wurzelwerk und Vögeln in ihren Kronen verwoben.“ Dazu kommentiert o.a. Suffert (S. 232f): „So etwas kann man nur behaupten, wenn man die Irminsul mit dem christlich gewordenen Lebensbaum aus dem Zweistromland unbedenklich miteinander gleichsetzt. Das tut H., und es wird ihm nun leicht, das falsche Bild der Irminsul in allen möglichen Bereichen aufzufinden.“ Hammerbacher folgte darin aber nur seinem Altmeister Wilhelm Teudt, der schon in „Germanische Heiligtümer“, 1931, Seite 53 zwei Abbildungen 26 u. 26a: „Die Irminsul in christlichen Kirchen“ vorstellte, welche den typischen, von Tieren oder Mischwesen flankierten orientalischen Lebensbaum zeigen.
 
Die Frage wäre, wie die orientalischen Darstellungen des Lebensbaumes in die romanische Kunst des Abendlandes gelangt sind ? Ich halte es für eine sehr frühe Entlehnung, denn Nachweise finden sich in griechisch-römischer, byzantinischer, langobardischer bis in die karolingische Ära hinein. Auf dem Griffschutz des sog. „Schwertes von Karl dem Großen“ (Louvre, Paris) prangt ebenfalls der stilisierte Palm-Lebensbaum - Hammerbacher würde ihn Irminsul genannt haben. Der eklatante Widerspruch wird gerade anhand dieses Nachweises offenkundig. Hätte denn der christliche Zerstörer der heidnischen Irminsul deren Abbild selbst an seiner Waffe getragen ? - Das wäre ziemlich paradox !
 
Von solchem Widersinn bleibt Hammerbacher seltsamerweise völlig unbeeindruckt. Er meint: „Selbst Geistliche verschmähen es nicht, die Irminsul auf Meßgewänder aufsticken zu lassen. ... Gern tragen die Könige und Fürsten in deutschen Landen Gewänder mit der Lebensbaumzier. Auf dem Kaisermantel darf dieses Zeichen freilich nicht fehlen.“ (S. 130) Hier formuliert Hammerbacher seinen Trugschluss selbst allerdeutlichst. Er setzt den orientalischen Lebensbaum mit der germanischen All-Säule gleich bzw. wirft beides durcheinander ! Mit dem „Kaisermantel“ beschreibt er den Krönungsmantel Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, einem normannischen Erbstück, das in den sarazenischen Werkstätten zu Palermo/Süditalien im Jahre 1133/34 gefertigt wurde und eine arabische Inschrift trägt. Genau hier liegt der Punkt, an dem Hammerbacher nicht mehr verziehen werden darf ! Denn dieser gestickte Baum auf dem Kaisermantel, von Löwen und Dromedaren flankiert, ist allerdeutlichst als Dattelpalme mit den Dattelfruchtständen dargestellt. Hammerbacher wusste also sehr genau, dass er seinem Publikum die Dattelpalme des Orients als germanische Irminsul anzudrehen bemüht war. Wohlweislich verzichtete er deshalb auch auf eine Abbildung des Kaisermantels in seinem Buch.
 
Hammerbacher findet weiter „Die Irminsul an Schränken, Truhen und Gebrauchgegenständen“ (Kap. 24). Er entdeckt sie in der Silber- und Goldschmiedekunst, auf Bildteppichen, Gewändern, Trachten, an Stiegen, Treppenaufgängen und Kirchenkanzeln. (Kap. 23, 25, 26) Nach Hammerbacher ist sogar der „Schellenbaum“ ein Abbild der Irminsul, obschon dieser erst mit den Türkenkriegen aus dem Orient zu uns gekommen ist. (S. 138)
 
Die Irminsul, welche Hammerbacher allüberall, und auch insbesondere in der langobardischen Kunst Italiens zu finden glaubt, ist die christliche „Arbor vitae“, der Lebensbaum. Ein besonders schönes Exemplar findet sich auf einer Stirnseite (auf entgegengesetzter Seite prangt der „Kreuzbaum“) des Steinsarkophag der hl. Reginswindis zu Lauffen a. N. aus er ersten Hälfte Jh. 13. Jh. In langobardischer Zeit, die stark von der byzantinischen Kunst beeinflusst war, häufen sich die kreativ variierenden Palmbaum-Darstellungen. Gerade aus den langobardischen Bildwerken geht deutlich hervor, dass die sogenannte „heraldische Lilie“ nichts anderes als ein rudimentäres Palmbäumchen meint. (s. Emerich Schaffran, „Die Kunst der Langobarden in Italien“, 1941) Besonders der langobardische Brunnentrog (heute im Kreuzgang St. Giovanni in Laterano/Rom) liefert mit seinen vielen variierenden Reliefbildern den Schlüssel zum christl. Palmbaum-Lebensbaum-Verständnis, welches die sog. „heraldische Lilie“ - von unwissenden Schwärmern à la Hammerbacher als „heidnische Lilie“ fehlgedeutet - aus gleicher Bildquelle erklärt.
 
Nach sorgfältiger Untersuchung der Hammerbacher-Schrift müssen wir uns vollinhaltlich dem Urteil O. Sufferts anschließen (S. 236): Sämtliche Kapitel „enthalten zahlreiche falsche Angaben und böse Flüchtigkeiten. Es ist nicht möglich, im einzelnen darauf hinzuweisen; sie umfassen fast ein Drittel des Buches. ... Für jemanden, der sich über die Irminsulprobleme unterrichten will, ist das Buch unbrauchbar.“