Sigurt und Fafnir
 
 
Die einzelnen Runennamen und wohl auch das Wissen um die Bezeichnung des gesamten Runenkörpers von 24 Stäben, müssen in urgläubiger Zeit zum Geheimwissen weniger Eingeweihter gehört haben.
 
„Ich weiß deinen Namen“, so raunt der Magier den Geistmächten zu, über die er Macht gewinnen will. Wer Zauberbücher irgendwelcher Art kennt, dem ist das nichts Neues: Den Namen wissen, heißt, die Wesenheit begreifen, „haben“, sie zwingen können. Noch das mittelalterliche Denken war beherrscht von der Vorstellung, dass Namen und Sache sich deckend einander entsprechen müssten. Jeder, der den wahren Namen eines anderen „besitzt“, verfügt mit ihm über die tiefinnewohnenden Wesensmerkmale und Kräfte seines Trägers. Dergleichen Namenszauber stand bei den verschiedensten alten Völkern in hohem Ansehen.
 
Die Römer hüteten als dunkles Geheimnis den Namen der Schutzgottheit von Rom, damit die Feinde sie nicht erführen. Der Geheimname schützt durch seine Verborgenheit den Träger davor, dass schadender Zauber sich des Namens als Handhabe bediene. So ist verständlich, warum auch Sagenheld Sigurd, der sein Schwert dem Drachen Fafnir ins Herz stieß, dem Sterbenden zunächst die offene Antwort verweigerte, als sich dieser nach dem Sippennamen des Töters erkundigte (Fafnismál 1). Ist der Name des Feindes nicht bekannt, kann er auch nicht verflucht werden. Jener Glaube war also weit verbreitet, dass derjenige, der den Namen eines Geistwesens kennt, Macht erhält, es zu bannen, zu schädigen oder sogar zu vernichten. Hätten mich, der ich den Geheimnamen der Wodanreligion „ODiNG“ (d.h. Od-Kind) erstmalig ans Licht einer breiten Öffentlichkeit hob, die alten Runenweisen verurteilt und verflucht? Mir ist nicht bange wegen des „Verrats“ eines bislang verschollenen Geheimnisses, denn dass selbst nachrechenbare Zusammenhänge, gestützt von zwingender Menge der Beweise aus dem Fundmaterial, in freizügiger Weise dargelegt werden können, trotzdem nur von einem kleinen Kreise Auserwählter zu verstehen sind, das durfte ich erleben -, „wen die Gottheit schlagen will, den schlägt sie mit Blindheit.“
 
Den aufschlussreichsten Einblick hinsichtlich der Namensmagie gewährt das Märchen vom Rumpelstilzchen mit seinem frohlockenden Ausruf: „Oh wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“ Der Umstand seiner Unnennbarkeit, Namenlosigkeit, sichert dem bösen Zwerg die zauberische Unangreifbarkeit zu. Als dann wider Erwarten der Geheimname doch bekannt wird, also der Schutzzauber gebrochen ist, kommt dies einer völligen Entmachtung gleich, so dass sich der widerliche Wicht im Augenblick der Entdeckung selbst auseinanderreißt. Auch ein althochdt. Zauberspruch aus dem 10. Jh. lautet: „Wola wiht taz tu weist, taz tu wiht heizist. taz tu ne weist noch ne chanst, cheden chnospinici.“ (Wie wohl ist’s, Wicht, daß du weißt, dass du „Wicht“ heißt, dass du aber nicht weißt und nicht kannst sagen „chnospinici“.) Der Sinn des Spruches ist nicht in allen Teilen klar, sicher aber ist, dass das Haus vor einem „Wicht“ geschützt werden sollte, welcher einem lat. Begleittext zufolge der Teufel ist. Um ihn zu bannen, versuchte es der Beschwörer mit Namensmagie: Er teile dem Unhold indirekt mit, daß er seinen Namen kenne. Damit nahm er ihm, wie wir es vom Rumpelstilzchen her wissen, den wichtigsten Trumpf aus der Hand. 
 
Solche Gedankengänge bezogen sich auf die Schadenmagie natürlich geradeso wie auf die Heilmagie. Die griechische Zaubergnosis und nicht anders die von ihr mitbefruchtete wodinische Theosophie versuchten mit dem Instrumentarium rituellen Wissens und der Kraft der Intuition, die besondere Beschaffenheit der Dinge sowie deren inneren Zusammenhang mit dem Weltganzen zu begreifen, um sie sich für magische, also Heils- oder Schadenszwecke dienstbar zu machen. Die spezielle Wesenheit eines jeden Dinges kam aber zum Ausdruck in seiner mimischen Gleichung und in seinem Namen bzw. seiner Zahl. Mit der Namenskenntnis ging das Zahlwertwissen gleichzeitig einher; denn die Buchstaben galten ebenfalls als Zahlzeichen. Man zählte die Zahlwerte der Buchstaben zusammen und kannte nach Quersummenziehung, mit der sich ergebenden Kern- oder Seelenzahl, den wesentlichen Aspekt des beobachteten Gegenstandes - ob Tier, ob Mensch oder Gottheit.
 
Bild: Sigurd und Fafnir