DER WELTEN(MAI)BAUM
 
 
Es rufen des Nordens belehrende Lieder
zum tiefsten Urgrund der Mütter hin nieder,
an die Ufer des Urbornes rätlicher Quelle,
zum Ursprung wissender, wispelnder Welle.
 
Dort sagt wohl die warnende Wölva wahr,
was weiland in wankender Urzeit geschah -;
es weissagt die sichtige Saga-Sibylle,
aus kundiger, klärlicher Kenntnisfülle.
 
Allsichtige Ahnfrau, die Tochter der Erde,
sie rät das Geheimnis vom Stirb-und-Werde,
kündet vom Weltbaum, dem immergrünen,
dem drei starke Wurzeln als Stützen dienen.
 
Die eine in grässlichen Grüften mündet,
wo wüstes Gewürm im Gewürge sich windet;
da nistet Nidhöggr, der neidische Drachen,
Zeiten im hadernden Hass zu durchwachen.
 
Im Wipfel, erhaben, so wonnig, so wahr,
in der Höhe, da horstet der Sonnen-Aar.
Der hasserfüllt Hauende, dort im Grunde,
erhält vom heilenden Himmelslicht Kunde.
 
Dass nimmer Feindschaft fürderhin rastet,
ein Hader erhaltender Bote hastet:
Ratatosk, das Eichhorn, der „Bohrer-Zahn“,
bringt die Lästerreden der Gegner heran.
 
Zwischen Drache und Adler ist ewiger Streit,
nie wird ihre Ordnung vom Orlog befreit !
Mit Lügen und Listen, brennenden Lunten,
dauern die Kämpfe von Oben und Unten.
 
Und dies ist des eddischen Mythos Sinn,
einsichtiger Hörer geheimer Gewinn:
Es stützt sich, was gegeneinander strebt -,
ein friedsam vereinigtes Sein verlebt !
 
Es liegt in der Gegensatzspannung nur
die verborgene Einhelligkeit der Natur.
Es währet das webende Weltengetriebe,
durch den Widerpart von Hass und Liebe.
 
Und gerade, wie wieder, zur mailichen Frist,
der Weltbaum des Lebens errichtet ist -
um den das Welt-Volk im Kreise sich dreht -,
tanzt es, wenn wieder der Maibaum steht.
 
Beharrend erwies sich der Bräuche Treue,
das Herkommen regte sich immer aufs Neue -;
zum Sonnenhochstand, beim vollen Mond,
war man das Baum-Fest zu feiern gewohnt.
 
Vom Runen-Beginn - bis heutigem Tag,
blieb Brauchtum so wie ein Brückenschlag:
Wenn der Runen-Kalender den Weltbaum führt,
wird im Frohsinn der Mai-Baum gekürt.
 
Bild: Der wohl älteste Baum Deutschlands, die 2.000- bis 4.000-jährige Eibe von Balderschwang (Oberallgäu), auf ca. 1150 m Höhe. Die Eibe besteht aus zwei Stammteilen, die aus einer Wurzel wachsen.