W O D I N
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich leidend am leidenden Lebensbaum.
Ich wusste wo Wurzeln sich ringeln und recken,
zur kraftvollen Fülle hinab sich zu strecken.
Dort nagt sich nährend der Neidwurm fett
und räkelt sich reif im lebendigen Bett.
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich klagend im kalten, kosmischen Baum.
Es ragt der Raum im rollenden Rund,
gleich der Schicksalsmutter mahnendem Mund.
Monde und Sterne, sie stürzen und steigen
im wachsenden, weichenden, wechselnden Reigen.
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich sinnend und sehnend am Segensbaum.
Nach rätlicher Rettung ich rief und rang,
bis Antwort mir wurde im sagenden Sang
und quirlenden Quellen der quälenden Zeit,
aus läuterndem Leid wunder Wesenheit.
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich wissend am weidwunden Weltenbaum.
In den Wurzeln waltet der würgende Wurm,
in ragenden Ranken rast reißend der Sturm.
Des Baumes Borke birgt böse Brut,
da weiß ich wirken weltfeindliche Wut.
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich sehnend und sterbend im Schreckensbaum.
Die Brust brannte blutig vom breiten Speer,
hilflos hing ich mit heißem Begehr.
Keine Schale schenkte mir tröstenden Trank,
das Herz hackte hadernder Harm mir krank.
 
Neun Nächte lang - mein Lebenstraum -
hing ich selbst mir geopfert im Opferbaum.
Ob Eibe, ob Esche, ob Kreuz oder Pfahl,
es bleibt  m e i n  blutiges Opfermal.
Als vom heiligen Holze ich sterbend schied,
da brandete bald mein brausendes Lied.
 
Neun Nächte lang - ein ewiger Traum -
durchwebt mein Wesen den Wunderbaum.
Zwar zeugt niederer Neid die Not stets neu,
doch dem Hohen hält heilende Hilfe die Treu’ !
Sucht ihr meiner Seele segnenden Klang,
so enträtselt den rettenden Runengesang !
 
Opfermond 7981 n.M.
 
Bild und Text Copyright © Gerhard Hess
 
 
Begriffserklärung:
Aus dem Gottesbegriff  Wodin ist durch Anlautschwund des „w“  vor dunklen Vokalen der spätere altnord.  Name Odin entstanden.
 
WODAN-WODIN - GERMANENGOTT - GEISTGOTT - Einer der bedeutendsten Germanisten und Liebhaber unserer germanischen Göttermythen war Felix Dahn. In seinem herrlichen Buch „Walhall“, S. 51 sagt er: „Odin-Wotan. Odin führt uns in die höchsten und tiefsten, die feinsten und meist durchgeistigsten Elemente des germanischen Wesens. Thor-Donar ist der Gott der Bauern; Odin-Wotan, der Siegeskönig, ist der Gott der völkerleitenden Fürsten und Helden: zugleich aber (und das ist das Wunderbare, in dieser Vereinigung so ganz für die germanische Volksindividualität Charakteristische) ist er der Gott der Philosophie und der Dichtung: die großen Könige der Völkerwanderung und die Kaiser des Mittelalters wie andererseits der ewig suchende Faust der deutschen Philosophie: Kant, Hegel, Schelling, aber ebenso die größten germanischen Dichter: Shakespeare, Goethe und der Dichterphilosoph Schiller: - alle diese Männer hätten unter der Asenreligion Odin als ihren besonderen Schutzgott betrachtet: alle diese unter sich so grundverschiedenen und doch gleichmäßig für germanisches Eigenwesen so scharf bezeichnenden Gestalten, - sie sind Erscheinungen dessen, was die heidnische Vorzeit unseres Volkes in ihren obersten Gott gelegt hat: ahnungsvoll hat das Germanentum in die eigene Brust gegriffen und seine höchste Herrlichkeit in Staats- und Siegeskunst, seine Heldenschaft, seine tiefsten Tiefen grübelnder Forschung, seine sehnsuchtsvolle dichterische Begeisterung verkörpert in seinem geheimnisvollen Götterkönig: es weht uns an wie Schauer aus den Urtiefen unseres Volkes, gehen wir daran, Odins Runen zu deuten und die Falten zu lüften seines dunkelblauen Mantels."
 
Martin Ninck, der Autor des Grundlagenwerkes „Wodan und germanischer Schicksalsglaube“ (Erscheinungsjahr 1935, nach Vorarbeiten in den 20er Jahren), schreibt folgenden Schusssatz: „Wodan aber ist im Faust das Lebensproblem Goethes geworden, und stand dem Dichter das Kriegertum des Gottes fern, so hat er dafür, dem mittelalterlichen Bilde getreu, die Gestalt des ruhelos schweifenden Wanderers, des Beschwörers und Zauberers, des zutiefst bei den Müttern forschenden, im Sturm zum Hexenberg ausfahrenden, um das Geheimnis des Lebens sich leidenschaftlich mühenden Suchers gewaltig beschworen, dienstwillig Mächten verpflichtet, von denen er nicht wußte, wie tief sie ins Herz des Germanentums zurückführen.“
 
Bild: „Heilbringer“ - Kunstmaler E. Vital Schmitt (1858-1935), dem Vater von Margarethe Schmitt (1890-1978), der Lebens- und Schaffensgefährtin von Herman Wirth (1885-1981). Das Bild ist ebenso von Herman Wirth inspiriert wie das von Bernhard Hoetger 1929/31 entworfene holzgeschnitztes Bildwerk mit dem im Selbstopfer hängenden Odin als Symbol des Jahreskreislaufs, das dem „Haus Atlantis“ in der Bremer Böttcherstraße 2 vorgeblendet war, bis auch dieses Kunstwerk durch die alliierte Bombardierung der Bremer Altstadt zerstört wurde. (In der Nacht vom 18./19. u. 30.08. u. 06.10.1944 bombardierten die Engländer / Amerikaner den dichtbebauten Westen der Stadt und Bremer Innenstadt)