DER SCHLANGENKÖNIG

Glänzend, glatt, tiefblau und gold,
der Schlangenkönig im Kosmos rollt.
Nichts ist wie dieser Ring so ganz,
sein Kreismaul beißt sich in den Schwanz.

Und ewig bleibt die Schlange frisch,
sie kann nicht sterben, sie häutet sich.
Man heißt sie auch die „Große Seele“,
die allen Seelen sich empfehle.

Aus ihrem Sinn sind Seelenschlangen,
zum Urbeginn hervorgegangen.
Drum müssen sie zu ihr zurück,
ins Lebens- wie ins Todes-Glück.

Sie ist Weltmutter und Weltenvater,
die Weltenweisheit, der Heilberater.
Im großen Ganzen kein einzig’ Gran,
das diese Schlange nicht deuten kann.

Svāfnir und Ófnir sind ihre Namen,
sie schläfert und öffnet die Seelensamen.
Man nennt sie Wodin, sie ist das Od,
Vater und Mutter von Leben und Tod.

Über Wodin hat es der Mären viel,
zu deuten der Gottheit Wesen und Ziel.
So holte er gleitend im Schlangenkleid,
Óðrörirs Trank bei Gunnlöd, der Maid.

Solch’ Od-Getränk ist Seelen-Speis’.
Die Gunnlöd schlang ihre Arme, weiß,
im Liebesverlangen um Wodins Brust,
in der Urerregung von brünstiger Lust.

Wenn dein Od sich rührt, deine Seele wallt,
dann wütet Wodin in Schlangengestalt,
zu Liebe und Zorn und Gedankenrausch,
je nach der Seele Empfindungs-Tausch.

Willst du die Große Schlange versteh’n,
magst du dein Seelenschlänglein beseh’n.
Makro- und Mikrokosmos sind gleich,
in Od-Schlangenkönigs geistigem Reich.

Die Schlange galt bei den Römern und Germanen als die tierische Verkörperung des „Spiritus familiaris“, Verstorbener oder der menschlichen Seele überhaupt; daher kann in den Märchen die Seele auch den Körper lebender Menschen in Gestalt einer Schlange zeitweise verlassen. Die bezeugte langobardische Schlangenverehrung in Italien bezog sich sicherlich auf den germ. Totengott Wodin, dessen Kultnamen auch Svāfnir (Einschläferer) und Ófnir (Anreger / Öffner) waren, Begriffe, die sowohl Schlange wie Odin bedeuten.

Bild von dem russischen Maler Boris Olshanskiy - „Wodin und Gunnlöd“