MEIN OD-KIND
 
Seit tausend Wintern wissen es die Weisen,
dass mit den Menschen Seelengeister reisen,
in der Gestalt von mädchenhaften Wesen,
oft lieblich, elfenschön, wie auserlesen.

Ihr Antlitz zeigen sie in manchen Träumen,
dann treten sie aus ihren Zwischenräumen,
sie warnen uns vor kommenden Gefahren,
durch Sinnbild-Zeichen die sie offenbaren.
 
Die Freundschaft mit der Seele ist zu pflegen,
wer dies vermag erlebt den reichsten Segen.
Wir sollten danach suchen, danach streben,
dann wird uns Hilfe für ein starkes Leben.

Wem es gelingt mit seinem Geist zu reden,
wird mit Erfolg den Unglücksgeist befehden;
den guten Ratschlag wird er nie vermissen,
er wird den rechten Weg wohl immer wissen.

Und wär’ er einmal trotzdem unbedacht,
so greift der Glücksgeist ein, gibt selber acht.
Wer solchen wundersamen Schutz gewinnt,
den nennt der weise Volksmund Sonntagskind.

Denn Sonnenheil ist allerwegs vonnöten,
die lichte Kraft allein kann Lippen röten;
die Sonnenfunken fahren in die Herzen,
im Schimmer schmelzen unsere Schmerzen.

Urferne Ahnen schon erkannten jene Kräfte,
gewachsen aus des Sippenblutes Säfte -;
mit lichten Himmelsgöttern dicht verwandt,
herab aus Nordens klarer Höhe hergesandt.

Hamingja nannten unsre Ahnen diese Geister,
so lehrten’s schon der Runen hehre Meister;
auch Fylgja, Folgegeist galt als Benennung,
doch wäre Od-Kind klar die beste Kennung.

Od meint die Seele, meint Gemüt und Geist,
Od ist das Gut und jenes das zur Spitze weist;
Od ist das Ur-Es, das zu allem Anfang war,
Od ist die Kraft die sich die Welt gebar.

Mein Od-Kind wandelt treu an meiner Seite,
bei Tag und Nacht, im Frieden wie im Streite -;
und kehr' ich einst zur ewigen Himmelsruh’,
dann trägt es mich den hohen Sternen zu.
 
Eine der bestätigenden Grundlagen meiner Erkenntnisthese ist die Nachricht aus eddischer Mythologie vom Gotte Óð, Óðr. Der Umstand, dass er mit Óðinn nicht gleichgesetzt werden kann und als Ehemann der allgerm. Muttergöttin Feija-Freyja galt (Vsp. 25), erweist seinen Ursprung aus einer voraltnordischen, viel älteren, wahrscheinlich schon gemeingerm. Schicht. Auch Jan de Vries erklärte: „Óðr ist eine alte Gottheit, aus ihm ist Óðinn hervorge­gangen“. (Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, 1957, S.87) Sein Begriff weist ihn als Seelen- und Geistgott aus, denn altn. óðr ist das Seelen­leben und wohl auch der Verstand. In Vsp. 18,4 werden dem ersten Menschenpaar die Gottesgaben zuteil: „önd gaf Oðinn, óð gaf Hœnir, lá gaf Lóðurr oc lito góða“, „Atem gab Odin, Seele gab Hönir, Lodur die Wärme und gute Farbe“. Odin-Wodan schenkt Atem / Leben / Seele, während die beiden anderen göttlichen Erscheinungs­formen, Hönir („der Schwanen­gleiche“) und Lodur („der Fruchtbringende“; germ lôdiz, altn. lôð „Frucht / Ertrag“) Geist/Seele sowie Wärme und Farbe geben. (Der Schwan als Seelenbringer: Alarich Augustin, German­ische Sinnbilder als Hofgiebel­zeichen - Das Schwanengiebel­zeichen in Niederlän­disch-Friesland, 1942, S.90ff) Wie wären Sinn und Seele genau zu scheiden ? Dazu schreibt der Isländer Sigurdur Nordal: „önd, óðr: Hier wird eine Unterschei­dung gemacht zwischen dem Lebens­odem und der Seele. önd bestimmt die Lebens­funktionen, ist Teil des Lebens und ist Mensch wie Tier gemeinsam. óðr ist der ,göttliche Funke‘ im Men­schen, der auf höhere Mächte zurückgeht.“ (Sigurdur Nordal, Völuspa, 1980, S.48) Óðrörir, „Seelenerreger“, heißt der mythische Trank aus dem Speichel aller Götter, der höchste Gelehrsamkeit, Weisheit und Dichtkunst schenkt. Von diesem vortreff­lichen Met trank Odin, da begann sein Geist zu wachsen, er fühlte sich wohl, ein Gedanken führte ihn zum nächsten und er kettete Werk an Werk (Hávamál 140-141). Mit dem Begriff altn. óðr, germ. wôÞa „Gesang“, wurden Gesang und Dichtung bezeichnet und als Ad­jektiv beschrieb man damit Seelen­erregungen wie „erregt / wütend / rasend / toll“. Im heu­tigen schwed. Wortschatz gibt es noch odon, die „Rauschbeere“.