Abb. 1 -Runenkästchen von Auzon“ oder Franks Casket“ - 8. Jh. aus Northumbria / Angelsachsen
 
GEDANKEN ZUM RUNEN-KÄSTCHEN VON AUZON
 
Dr. Alfred Becker erkannte („Franks Casket - Zum Runenkästchen von Auzon“, 1973), dass die 54 Zählelemente der 18 Zinnensteine der mythischen Himmelsburg, die auf dem Deckelbild von „Franks-Casket“ eingeschnitzt sind, die 540 Tore Walhalls versinnbildlichen sollen. Trifft A. Beckers Vermutung zu, so hätten wir ein Bild Walhalls vor uns. Die Zahlen 18 wie auch 540 lassen sich auf ihre Quersummen-Grundwerte 9 reduzieren, also der Lichtzahl germ. Mythologie (9. ODING-Rune = „Sōwilō“ / Sonne). Durch die 540 Tore Walhalls ziehen im eschatologischen Endkampf je 800 Krieger hindurch gegen die Lichtfeinde (Grimnislied, Vers 23). An besagter Stelle heißt es: „Fünfmal­hundert(zwanzig) Tore und vierzig dazu sind in Walhalls weitem Bau; achtmal­hundert(zwanzig) Einherier gehen aus einem Tor, wenn sie auszieh'n, zu wehren dem Wolf.“ Das wären also 540 x 800, somit 432000 Lichtritter; wiederum erscheint die Kernzahl 9. Damit wird der potentielle Lichtkraftcharakter der Jenseitsburg ebenso versinnbildlicht, wie durch um 24 eingekerbte Sōwilō-Runen ( ) auf Walhalls Mauern (exakte Zahl ist schwierig festzustellen).
 
 
Die „wölfischen“ Angreifer werden in Gestalt von zwei größeren Hauptkampfträgern bzw. „Reifriesen“ ins Bild gesetzt und weiteren vier kleineren Gestalten, möglicherweise ihre Kriegsknechte. Der Verteidiger Walhalls ist hier Egil - der weltbeste Bogenschütze - nach altnordisch-mythischem Verständnis; sein Name ist in Runenzeichen über ihm eingetragen: „Ägili“. Ob die beiden nackten Schildträger - ober- und unterhalb der zentralen runden Scheibe, an der wohl ursprünglich ein Deckelring befestigt war - dazuzurechnen sind, bleibt offen. Dr. Becker vermutet, dass sich darin ein Jahresschema verbringt, auf das sich die 12 im Arrangement verstreuten „Bällchen“ als Monatssymbole beziehen. Trifft dieses Verständnis zu, dann könnten die beiden gekonterten Gestalten die beiden Jahreshälften versinnbildlichen wollen, wie es schon auf bronzezeitlichen Felsbildern Schwedens zu sehen sind (Ryland, Tanum, Bohuslän). Im Zentrum der Walhalla-Feste steht ein schönes Gebäude worin eine hockende Gestalt eine Lanze zu halten scheint. Man müsste den Göttervater Wodin vermuten, worauf seine Waffe einen sicheren Hinweis geben könnte, wenn nicht das offenbar lange Haupthaar ein weibliches Wesen vermuten ließe ? Der Befund ist verwirrend. A. Becker wies darauf hin, dass S. Pollington „in der Gestalt Woden/Odin, der hier - vielleicht mit seinem Speer Gungnir in der Hand - auf seinem Hochsitz (Thron) Hliðskjálf dargestellt“ sieht.
 
Abb. 2   3
 
Abb. 2 - Doppelschlangen-Darstellung über dem Kopf der sitzenden Gestalt im Jenseitssitz Walhalla auf Auzon-Kasten - Abb. 3 - Doppelschlange über dem Kopf des toten Kriegers vom fränkisch-heidnischen Grabstein von Niederdollendorf
 
Andererseits ergibt das Bild eine schöne Bestätigung für meine Deutung der Doppelschlangen-Metapher. Ober- und unterhalb des/der Sitzenden sind eine baldachin- sowie teppichartige Doppelschlange dargestellt (Abb. 2 + 5), deren Sinn - wie ich dargelegt habe - sich auf die Verheißung des Ewigen Lebens im Kontext der wodinischen Runenreligion bezieht. Ein diesbezüglich völliges Unverständnis ist aus dem Satz Austin Simmons herauszuhören, welcher sich fragt, was das wohl sein könne, was „wie ein Regenbogen“ aussehe („The Cipherment oft the Franks Casket”, 2010).
 
Siehe zu Doppel-Schlange: DIE ODAL-LEBENSSCHLINGE 
 
Was der Schöpfer des Kästchens beabsichtigte ist nicht klar ersichtlich, fest steht allein, dass in seinen runen- und andersschriftlichen und Bildaussagen keine krassen christlichen Anklänge erscheinen, sondern die aus seiner norddeutsch-angelsächsischen Urheimat herrührenden altgläubigen Symbole und Mythen verarbeitet wurden. Eine noch zurückhaltende synkretistischen Haltung scheint ihm eigen.
 
  
 
Abb. 4 a + b - Rückseite des Auzon-Kästchens, natur und ausgemalte Version - Hier soll der Tempel von Jerusalem ins Bild gesetzt werden, der von dem röm. Feldherrn Titus 70  n. 0 erobert wurde, nachdem / währenddem er von den aufständischen, gegenseitig verfeindeten Bewohnern selbst angezündet worden war.
 
Der Schnitzkünstler des Kästchens oder dessen Auftraggeber, demonstriert sein weitläufiges Weltwissen bzw. den hohen Stand seiner Allgemeinbildung, indem er von den Sagas des Nordlandes ebenso zu berichten weiß wie vom römischen Ur-Zwillingspaar Romulus und Remus, von den anbetenden 3 eranischen Magiern/Hl. Königen und vom Untergang Jerusalems im römisch-jüdischen Krieg 70 n. 0. Indem er den Tempel von Jerusalem ähnlich seiner Walhalla-Darstellung mit Rundkuppel gestaltet, zeigt er, dass ihm die christliche Betrachtungsweise vom sog. „Himmlischen Jerusalem“ - einem kirchlichen Synonym für das Jenseits - nicht unbekannt ist. Auch für die sorgfältige Ausgestaltung seiner „Jerusalemer Tempelfassade“ benutzte er die damals allgemein im Norden bekannten Sinnbilder des Ewigen Lebens, die Doppelschlange und die diversen Formen des Wodinknotens.
 
Abb. 5 6
 
Abb. 5 - Die Gestalt in Walhall, unter und über der Doppelschlange - Abb. 6 Doppelschlangen-Baumsarg aus alemannischem Gräberfeld von Oberflacht (Baden-Württemberg), aus der Zeit des Auzon-Kastens
 
Abb. 7 8
 
Abb. 7 -Der Fund eines auf dem Thron sitzenden Odin (re. + li. Raben Mugin + Munin) aus „Gammel Lejre“ /  Dänemark, Zeitstellung 900/1000 n.0 (Höhe: 17,5 mm, Breite: 19,8 mm, Tiefe 12,4 mm) lässt es denkbar sein, auch die sitzende Gestalt in Walhall des Auzon-Kastens als Odin zu deuten. Er hat die ODING'sche Zahl seiner asa-Rune (  ) auf der „Schürze“: 21. - Abb. 8 - Auch die Abbildung auf dem Runen-Bildstein „G 181“ von der Sanda-Kirche / Gotland, welche re. den sitzenden Odin mit seinem Speer Gungnir zeigt, macht es wahrscheinlich, dass mit der sitzenden Gestalt des Auzon-Kastens ebenfalls Odin gemeint ist, zu dem die oðala-Schlingen-Rune, oder der aus ihr hervorgegangene Valknut, entschieden gehört, wie es viele mittelalterliche Abbildungen unter Beweis stellen. Und dass neben der Schlinge auch die Schlange seinen Sinnzeichen zugerechnet werdn muss, ist nach religionsphänomenologischem Schema nur zu natürlich. Es darf nicht übersehen werden, dass der germanische Wodin-Odin, als Ahnengeist und hermisch-merkurischer Psychopompos - trotz seines Aufstieges zum „Göttervater“ - ursprünglich ein entschieden chtonischer Gott war, von dem der Schlangenaspekt nicht weggedacht werden kann.  
 
Die Magier-Darstellung und die hervorgehobene Jerusalem-Tempelfront verraten die also nicht ganz so latente Neigung des Urhebers zur kirchenchristlichen Missionsidee. Über dem First des „Himmlischen Jerusalem“ markiert der Auzon-Schöpfer seine religiöse Haltung eigentlich recht genau, indem er das germanische Heilszeichen des auferstehenden Lebens, den Dreispross bzw. die algiz-Rune  stellt, welches durch den Querbalken alternativ auch als christliches Kreuzzeichen geschaut werden darf. - Sehr schön wird vom Schmuck der Tempelfassade mein Postulat bestätigt, nämlich von der sinnbildlichen Zusammengehörigkeit der oðal-Schlingen-Rune, des Valknut („Jenseitsknoten“) und der das Ewige Leben verheißenden Doppelschlange. Wer eine fundierte Arbeit über den Gesamtzusammenhang des Auzon-Bilderzyklus sucht, sei auf die Darlegungen von Dr. Alfred Becker verwiesen. Inwieweit dessen weitreichenden Ausführungen vom Leser nachvollziehbar bzw. stichfest bleiben, überlasse ich den geneigten Lesern. Beachtens- und überdenkenswert sind sie allemal !  
 
Diese kreisrunde rohe Scheibe in der Deckelmitte weist keinerlei Schnitzmesserbearbeitungsspuren auf, aber 4 Befestigungs-Bohrlöcher, so dass mit Sicherheit davon ausgegangen werden muss, als ursprüngliche Abdeckung einen metallenen Deckelöffnungsring zu vermuten. Wie der gestaltet war, wissen wir nicht, aber es muss sich um ein Sonnenbildnis gehandelt haben. Dafür zeugen die unmittelbaren Randfiguren der Scheibe, welche dem nahen Sonnenglanz nur standzuhalten imstande sind, durch das Vorhalten ihrer Schilde. Unmittelbar um die angenommene Sonnenscheibe gruppieren sich 6 Personen. Rechts davon Ägili, der himmlische Bogenschütze und Walhall-Verteidiger, ist als Lichtkämpfer identisch mit dem Licht des Numinosen und muss deshalb nicht sonderlich hinter den Walhall-Mauern vor dem Sonnenglanz geschützt werden. Ober- und unterhalb der „Sonnenscheibe“ liegen/stehen gekontert die dioskurischen Jahresteilhälften, sie schützen sich durch ihre vorgehaltenen Schilde. Die Gestalt links unter der Scheibe bückt sich, entweder bzw. sowohl als auch im Schutz- und demütigen Anbetungsgestus. Mit ihrer linken, nach oben geöffneter, Handfläche zeigt die Person ihre Segensbitte gegenüber Sonne/Walhall an. Die dahinter sichtbare Halbgestalt ist vom Pfeilschuss getroffen, also außer Gefecht gesetzt. Die nächste Gestalt dahinter schützt sich wieder durch vorgehaltenen Schild. Mithin verbleiben als intakte Angreifer der Lichtfeste Walhall allein 4 Personen. Eine davon hält zwar ihr Schwert in Richtung Front, doch ihre Schritte sind nach rückwärts gelenkt, ist also innerlich schon auf der Flucht oder im Begriffe Verrat zu üben, womit die moralische Verkommenheit der antigöttlichen Truppe unterstrichen wird. Allein 4 Waffen, 3 Schwerter und ein Speer, sind gegen Walhall gerichtet. Die zahlenmythische Aussage entspricht damit dem uralten Topos: Walhall markiert sich durch - wie oben dargelegt - die Zahl 9, welche nichts anderes ist als eine Vielfache der göttlichen 3 (3x3). Dagegen steht ihr dualer Gegensatz, die Materie mit ihrer Kennzahl 4. Dass dieser Gegensatz „Lichtgeist-dumpfe Materie“ bereits dem ODING’schen Runenkonzept von dessen Schöpfer eingewoben wurde, ist nachweisbar: Wodin, als „Ase“ bzw. verklärter Ahnengeist, Seelenführer und schließlich „Gottvater“ steht auf Position 21 ( ) mit Kernzahl 3, während der Thurse (  ), der Wintertitan, der Reifriese und antigöttliche Lichtfeind auf Position 22 steht, mit Kernzahl 4.