Copyright © Gerhard Hess 27.08.2023

Saturn_und_Esel.JPG

Kupferstich von Gottfried Bernhard Göz, um 1730, aus der Folge „Sieben Tugenden und sieben Laster“ - „Invidia, Der Neyd“. Allegorische Darstellung auf den Neid: Kain erschlägt seinen Bruder Abel, darüber sitzt Saturn auf Wolken, mit Sichel, Esel und einem Kind das er auffressen will.

 

TYPHON-SETH, KRONOS-SATURN UND ODING

Wie erklärt es sich, dass der Runen-Schöpfer im runischen ODING-Kalender, des astrologisch 8. Hauses, dem „Haus des Todes“, den Eisriesen-Winterriesen, den „Thursen“ auf Platz 22 hingeordnet hat und infolgedessen das Norwegische Runen-Gedicht den Thursen als „Saturnius“ bezeichnet ?

Marcus Manilius schrieb das astrologische Lehrgedicht „Astronomica“, das ich mir vornahm. Marcus Manilius, „Astronomica“ übersetzt u. herausgegeben v. Wolfgang Fels, 1990. S. 197, 2,874-880: „Mit Recht gilt des Typhos Stätte für schecklich, welche die wütende Erde erzeugte, als sie dem Himmel den Krieg gebar und Kinder entstanden, die ihrer Mutter entsprachen. Doch durch den Blitz in den Erdschoß rückwärts gedrängt, überkamen die Berge die Sinkenden wieder und es entwich in das Grab seines Kampfes und Lebens Typhoeus.“ Kommentare S. 453: „874-880 Typhon, griech. Typhoeus (Haus 8) ist ein phantastisches Mischwesen mit hundert Drachenköpfen und Schlangenbeinen, Sohn des Tartarus und der Gaia. Zeus bekämpft den Olymp-Usurpator beim Gigantenkampf mit einem Weltenbrand und stürzt ihn in den Tartarus bzw. türmt den Ätna über ihm auf.“ In diesem Zusammenhang verständlich platziert ist das kleine Sternbild des „Altars“, das in der Milchstraße südlich vom Schwanz des Skorpions steht. Er ist eines der 48 von dem alexandrinischen Astronom Claudius Ptolemäus beschriebenen Sternbilder. Nach einer Sage gehört der Altar zum Feuergott Hephaistos, an ihm verschworen sich die Götter gegen die Titanen. Von welcher Art und Weise die im Zeiches des Skorpions geborenen Menschen beeinflusst werden beschreibt Manilius in 4,217-222, auf Seite 281: „Der Skorpion bringt mit seinem mit kraftvollen Stachel bewehrten Schwanz, mit dem er, sobald er den Wagen des Phoebus [Sonnengott Apollo] durch seine Sterne führt, die Schollen durchpflügt und die Samen in Furchen streut, nach Krieg und Kriegslager lechzende Denkart zuwege und einem Bürger, der Spaß hat an reichlich fließendem Blute, nicht so sehr an dem Beutestück als an dem Blutbad. …“

Und auch die Annäherung und Vermischung der Komplexe des Bösen ist bei Manilius zu beobachten. In seiner „Astronomica“ 4,466 heißt es: „die zweiundzwanzig ist schädlich“ und in 4,501: „verschleudert sein Eis der Saturn“. Dass der Saturn als schlechter Planet betrachtet wurde und somit in Bezug zum astrologisch 8. Haus, dem „Haus des Todes“ steht, ist antike Tradition. Alle Prozesse der materiellen Vergänglichkeit, des Zerfalls, der Verwesung, des als negativ Empfundenen, vornehmlich Krieg und Tod, werden daher dem 8. Haus zugerechnet, einschließlich der heiklen Planeten Mars und Saturn. Die menschlichen Urleidenschaften und Triebhaftigkeiten galten ebenso als Impulse des 8. Hauses. Genau wie die späteren mittelalterlichen Planeten- und Aderlass-Männchen kennt Manilius die Zuordnung in 4,707: „Skorpion ist Herr des Geschlechts.“ Die katastrophale Niederlage der Römer durch den „Retter Germaniens“, den Cheruskerfürsten Armin, hat Manilius noch erlebt. In 4,715 schreibt er: „Rotblond erhebt sich Germanien mit ungeheueren Söhnen.“

Der mit Marcus Manilius etwa gleichzeitig lebende Cornelius Tacitus (58-120 n.0) schrieb sein Geschichtswerk „Annales“, eine Betrachtung über die Zeit des Kaisers Augustus (63 v.-14. n.0), zwischen 110 und 120 n.0. Darin berichtet er (5,4,3-4) von der Bedeutung, dass der Lauf des Saturn eine besondere, schicksalhafte Bedeutung für die Judenheit habe und die Juden den Saturn d.h. eine mit ihm identifizierte Astralgottheit anbeten („Saturnismus“), was sich durch die jüdische Verehrung des Saturn-Tages bestätigt, nämlich des Samstags: griech. sábbaton, hebrä. shabát/ Schabbat, engl. Saturday, niederl. Zatertag, breton. Sadorn. Schon die diversen Gruppen der Orphiker, ab dem 6./5. Jh. v.0, identifizierten Saturn mit Kronos. Die frühe auch astrologische Gleichsetzung und Verschmelzung von Saturn mit Kronos, dem „Anführer der Titanen“, bewirkte seine zunehmend schlechtere Beurteilung. Kronos hat laut giech. Mythologie seinen Vater mit einer Sichel entmannt und seine Kinder aufgefessen (außer Zeus), aus Angst, sie könnten ihn vom Thron stürzen. Kronos-Saturn wird daher taditionell mit Sichel/Sense dargestellt und steht für Unglück, Sorgen, Melancholie, Krankheiten, harte Arbeit, jedoch auch für Maß und Ordnung. Nach Saturns Vermengung mit Chronos wurde der Betrachtungskomplex zum Herrn der Zeit, des Abschneidens der Zeit, also der Vergänglichkeit und des Todes, mit Sense und Stundenglas. Im Laufe dieses Prozesses der astrologisch-mythischen Ausdeutungen und der Volksgläubigkeit wurde Typhon-Seth, der „Vater der Monster“, im 8. Haus ausgetauscht durch Chronos-Saturn, mit vielen Gleichungen und Angleichungen. Esel und Krokodil, Schwein, Schlange waren dem Typhon geweiht, dem Seth das eselähnliche Seth-Tier, auch wurde er in den bezeichneten Tieren dargestellt (Franz Boll, „Sphaera“, 1903, S. 322 ff). In der Astrologie wurde der Esel mit dem Planeten Saturn in Verbindung gebracht und dem Judentum spöttisch eine Eselsanbetung unterstellt. Nach dem jüdischen Geschichtsautor Flavios Josephus (37-100 n.0) sei Apion, der Nachfolger des weisen Theon (Vater der von Christen ermordeten Hypathia), der Urheber „dieser Verleumdung“ (c. Ap. 2,7), deren Inhalt die Anschuldigung ist, die Juden hätten in ihrem Tempel einen Esel angebetet. Apion war der griech. Direktor der alexandrinischen Grammatikerschule, also alles andere als ein gedankenloser Schwätzer. Der jüd. Philosoph Philon von Alexandria (um 15 v.-45 n.0) berichtete von dem „schon lange schwelenden Hass“ zwischen Juden und Griechen in der Stadt. In den Augen der griechischen Alexandriner strebten die Juden nach mehr, als ihnen zustand, man warf ihnen auch vor, keine „Ursiedler“ zu sein. Wir kennen nicht die Formen des saturnischen Eselskultes, der noch den jüdisch-christlichen Sektierieren vorgeworfen worden ist, wie aus dem Spottkruzifxus des Jahres ca. 125 vom Palatin in Rom hervorgeht, auf dem der jüd. Prediger Jesus mit einem Eselskopf abgebildet ist. Jedenfalls ist der Mann, wie berichtet wurde, auf einem Esel in Jerusalem eingeritten und als „König der Juden“ begrüßt worden.

So wie die graue Farbe des Alters, hat man das graue Bleimetall und den grauen Esel dem Planet Saturn zugerechnet, wie z.B. ein deutsches Tusche-Aquarell aus Ulm, von kurz nach 1464 aufzeigt. Die „Tübinger Handschrift Md 2“, aus Mitte 15. Jh., vermutlich im Raum Ulm/Urach entstanden, urteilt über Saturn folgendermaßen: „Der Planet ist böse und der Natur und allen Lebewesen gegenüber widerwärtig. Vor allem, wenn er herrscht und Macht hat, verdirbt er alles Lebendige mit Hunger, Tod und Not. Seine Kinder sind braun, haben einen dünnen Bart, einen runden Kopf, sind blass. Sie wohnen gern am Wasser oder in der Erde. Selten lacht er. Er hat Füße mit Schrunden, ein kleines Herz, eine kleine Brust, große, lange Brauen. Von Natur aus ist er ein Dieb, geschwätzig, feindselig, lügenhaft, geradewegs im Zorn, schwer zu erzürnen und doch nach dem Zorn kaum zu versöhnen. Mit seinem Besitz verfährt er sparsam, mit fremdem Gut freigebig und dreist. Er hat gierige Augen wie ein Mörder, ein ungestümes Hirn, einen bösen Willen; er ist ungern unter den Leuten und trägt gerne unsaubere, wertlose Kleidung in schwarzer Farbe, wird bald grau und hat ein gemeines Aussehen. … aber es nimmt selten ein gutes Ende mit ihm; Saturnkinder werden gewöhnlich gehenkt. Dieses Wesen haben sie vom Planeten Saturn.“

Der Runenfund von 2021 aus einem Grab beim norwegischen Svingerud, in der Nähe vom Tyrifjord, ca. 50 km nordwestlich von Oslo, hat meine Vermutung, was das Alter des Runensystems angelangt, bestätigt. Auch die Wissenschaft erkennt nun an, dass die Runenschrift vor ca. 2.000 Jahren breits in Gebrauch war, also in der Lebensphase der von mir erwähnten Autoren. 

Es war das letzte vorchristliche Jahrhundert, in dem die Spätpythagoreer und Spätplatoniker in Rom durch viele namhafte, bis heute bekannte Männer des öffentlichen und wissenschaftlichen Lebens vertreten waren. Der wohl kimbrische Runenschöpfer wird diese Kreise kennengelernt und seinen Nutzen daraus gezogen haben. Dass der Betreffende der Jütländer Erul gewesen sein könnte, habe ich dargelegt. Nicht allein die eifrige Missionstätigkeit der eranisch-zoroastrischen Magier, auch die altägyptischen Theologien von Osiris/Horus-Seth, und andere Richtungen der vorchristlichen Gnosis lehrten dualistische Konzepte. Auch der griechische Weltweise und Apollo-Priester von Delphi, Plutarch (um 45-125 n.0), erklärt in seinem Buch „De Iside et Osiride“ den Osiris-Isis- bzw. Horus-Seth-Mythos als Kosmologie, also als Weltentstehungs-Gleichnis. Er betrachtet Osiris als das Unwandelbare und Isis als das Wandelbare. „Das daraus geborene Weltall aber - Horus - ist weder ewig noch unvergänglich, sondern immer wieder aufs neue geboren, legt er es darauf an …, immer jung zu bleiben und niemals zugrunde zu gehen. Denn mit einem allgemeingültigen Satz gesprochen, sind wir der Meinung, dass diese Gottheiten [Isis und Osiris] über den gesamten Gutteil gesetzt sind…, indem die eine Gottheit die Prinzipien („die Keime“, „tas archas“) liefert, die andere sie aber aufnimmt und verwaltet“ (K. 64). Das heißt, Osiris sei der zeugende männliche Same und Isis die Gebärmutter des Alls. Das aus diesem Schema gedachte platonisch-pythagoreische Dreieck ist aus den ersten 5 ODING-Runen herauszulesen, ich habe es in meinem ODING-Buch von 1993 beschrieben.

Das war im Grunde ein verbindender Konsens der diversen Glaubensformen und die uralte Hauptaussage des Ariers Zarathustra: Alles Leben im Kosmos und im Menschen besteht aus zwei entgegen gesetzten Kräften, dem Prinzip des aufbauenden Guten und dem des zerstörerischen Unguten/Bösen. Osiris gilt als das Vernünftige, das Gute und Geordnete, während Typhon-Seth das ihm Gegenteilige, Archaisch-Titanische, Ungezügelte, Unvernünftige, das Ur-Chaotische und für die menschliche Gesellschaft das Sittenzerstörende und Ordnungsgefährdende repäsentiert. Im System des Runenschöpfers wurde dem Geist-Seelengott Od-Wodan der Platz und die Funktion des Jenseitsgottes Osiris eingeräumt und für Isis trat Gott-Ods Frau, die gemeingerm. Göttin Frija in Erscheinung. So ist das Buchstaben- und Kalender-System ODING-FUÞARK als germanische Gnosis erkennbar und durchschaubar geworden.

In der astrologischen Runen-Gnosis des ODING vertritt im 8. Haus der Reifriese/Winterthurse Hrym (Rune 22 = Materie 4) den Typhon-Seth-Saturnius. In Völuspa 49 steht: „Hrym fährt von Osten und hebt den Schild“. Hrym heißt der titanischen Götterfeind, „Hrym“ oder Hrymir (an. hrim = Reif- / Winterriese), der in Waffen gegen die Götter kämpft. Das gute Prinzip des Osiris übernimmt Wodanaz-Wodin-Odin (Rune 21 = Licht-Drei). Das gleiche Prinzip liegt schon den altarischen „Himmelssöhnen“ (ind. divō napātā, lett. dewa deli), den griech. Dioskuren Kastor und Pollux zugrunde, die im Germanischen Alken (Elch-Brüder) hießen und die 10. ODING-Rune namens Algiz erhielten. Auch die 16. ODING-Rune ist ihnen geweiht, deren Namen ist: „Heil + Hagel“. Die beiden Alken-Runen, 10 und 16 addieren sich zu 26, mit Quersumme 8, denn auf 8. ODING-Ort steht Tiu-Tyr, ihr alter Himmelsvater. Ihre Tradition dauerte fort bis in die Edda-Mythen hinein, in Gestalt von Baldur, dem „Guten Gott“ und Hödur, dem „Blinden Bruder“. Bei den Spartanern, den eifrigen Dioskuren-Verehrern, entsprach das Dioskuren-Symbol ganz dem Charakter der „Heil + Hagel“-Rune. Aus dem Dargelegten wird ersichtlich, dass der Runen-Schöpfer kein rücksichtsloser Neuerer und Umstürzer war, vielmehr den Wodan-Kult favorisierte (deswegen stellte er den Asen Wodan auf die gloriose 21. Stelle, mit QS 3), doch den vertrauten indogerm. Himmelsgott „Dyaus-Zeus-Jupiter-Tiu“ beließ er in Ehren.   

Der Runen-Schöpfer hat ersichtlich hellenistische Impulse aus dem letzten vorchristlichen Jahrhundert aufgenommen, sodann mit Hilfe mythologischer Bausteine und Begriffszeichen des Nordens, sowie einiger ihm für sein Vorhaben passend erscheinender Alphabetzeichen, einen gematrischen Zeichenverband entwickelt, welcher in gleicher Funktionalität, einen mond-sonnen-kalendarischen Jahresfestweiser darstellt und mit dem jede germanische Sprachlautung geschrieben werden konnte. Mit seiner Runenordnung schuf er als Ur-Erilar die Heilige Ewa der Germanen sowie die religiöse Glaubensbotschaft des Oding-Wizzod. Das war einer der erstaunlichsten Geniestreiche der menschlichen Geistesgeschichte.