ZAHLENKUNDE
2 a: Die Zahlen von 1 bis 24
Die Zahl 1 - O / - Urmütterlicher Seinsgrund - „Weltseele“
Antike Betrachtungen hielten die 1, die Monas („Einheit“), für keine Zahl, sie galt als Prinzip des Anfangs, als Symbol des Ur-Einen, des höchsten Göttlichen. Dem Pythagoreer Philolaos (5.Jh.v.0) zufolge ist die 1-Zahl Ursache der Welt, denn jede andere Zahl erweise sich als ein Vielfaches der 1, und so fasst sie alles in sich, sie ist der Grund (griech. arché; lat. principium) von allem. Oswald Spengler schreibt über die Eins: „Ihr Zahlzeichen war im Kreise der Pythagoreer [...] zugleich das Symbol des Mutterschoßes, des Ursprunges alles Lebens.“ (Oswald Spengler, „Untergang des Abendlandes“, Bd.1, 1920, S. 1119) Nach diesen Spekulationen galt sie, die Wurzel aller folgenden Zahlen und Seinsgrund weltlicher Dinge, noch jenseits des Ausgeprägten und Entfalteten liegend, auch schon als Vernunft. Sie erschien beides: das Unbegrenzte, Weibliche sowie das Begrenzte, Männliche. Plato stellte sie der Vielheit entgegen, als Größe, die nicht zerteilt werden könne. Das eben, erst die Teilbarkeit, sei das Wesen echter Zahlen. Ebenso rechneteEuklid die 1 nicht zu den Zahlen, wohl aber nennt er sie Quell und Ursprung: „fons et origo“. Darauf beruft sich noch der dt. Rechenmeister Jakob Köbel, 1537, indem er sagt: „daß 1 keine Zahl ist, sondern Geberin, Anfang und Fundament aller anderen Zahlen.“ (Ernst Jünger, „Zahlen und Götter“, 1.Teil, in „Scheidewege“, Jg. 4, 1974, S.18)
In diesen Betrachtungsweisen spiegeln sich kosmologische Mythen, die in den Beginn aller Entstehung ein zwiegeschlechtliches Urwesen setzten. Doch so, wie im kelt.-germ. Denken die Nacht dem Tage vorausgeht, die griech. Ur-Erdmutter Gaea erst den uranischen Himmel gebiert, so benennen auch älteste chinesische Quellen zuerst die erdhaft-weiblichen und dann die himmelsgleich-männlichen Naturkräfte: „Erst das Yin, dann das Yang, das ist das Tao“ („Hsi-Tsi“ erläuterndes Traktat zum I-Ging). Diese Sicht muss auch in germ. Weltentstehungslehre Gültigkeit besessen haben, dies offenbaren eddische Stellen (Völuspa 3, Gylf. 9) und das auf heidn. Dichtung fußende „Wessobrunner Gebet“: „Erde fand sich noch nicht, weder Himmel darüber“ - zuerst war die „weibliche“ Erde, daraus erst wuchs der „männliche“ Himmel. Gebiert das urmütterlich-urmaterielle Etwas erst den Himmel, muss es ihn vorgeburtlich in sich als Ideenbild getragen haben.
Dass der androgyne Ur- und Allgeist im ersten Weltwerdemoment - wie immer er auch gedacht wurde - mehr unter dem Aspekt des gebärenden mütterlichen Prinzips verstanden werden musste, ist naheliegend. Schon Plato bezeichnete die Urmaterie als Hyle („Stoff“) als Mutter und Amme des Seins. Für Plutarch vertrat die tausendnamige Mut („Mutter“), die ägypt. Isis, das hylische Prinzip. (Ernst WilhelmMöller, „Geschichte der Kosmologie“, 1860) Er sah in ihr auch die Weltseele in der Weise, wie die heutige Tiefenpsychologie das „Es“, die unbewussten seelischen Antriebe, versteht. In der Weltbildungslehre des Pythagoreers Philolaos (4. Jh.v.0) ist „die Eins“, wie es im „Fragment B-7“ heißt, „das zuerst Zusammengefügte in der Mitte der Weltkugel und heißt Hestia“, die feurige Ur- und Seelenmutter. (Erich Frank, „Plato und die sogenannten Pythagoräer“, 1962, S.326f) Platons Schüler Xenokrates bezeichnete die Eins, aus der die ganze Reihe hervorströmt, die also an der Spitze des Geisterreiches steht, als den „Weltgeist“; er nennt ihn Zeus und Göttervater. Für ihn ist die Zweiheit die Weltseele; sie ist die Göttermutter, und Xenokrates wird sie ebenso wie Philolaos mit dem Namen Rhea als Gattin des Zeus bezeichnet haben. (Richard Heinze, „Xenokrates“, Leipzig, 1892) Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Auffassungen, um die Frage: Wer steht am Anfang ? Urmutter oder Urvater ? Sie könnte sich in der Unsicherheit des linksläufigen Runenbeginns - „o“oder „d“- niedergeschlagen haben. Eine in vielerlei Hinsicht analoge Göttin war die vedische Aditi („Ungebundenheit“), die strahlende Erde, die nährende bunte Kuh, die Mutter der Gottheiten. (Alfred Hillebrandt, „Vedische Mythologie“, 1929, S. 95 ff) Das Sanskritwort „go“ verbindet in seinem Bedeutungsgehalt die mütterliche Erde mit der Kuh, dem Prototyp der Fruchtbarkeit - eine Sinnverknüpfung, welche sich wiederfindet in der ägypt. Hathor- bzw. Isiskuh, auch der griech. Io und der „kuhäugigen“ (nach Homer) Muttergöttin Hera, dem „Ursprung von allem“, wie die Griechen sagten. (Karl Kerényi, „Zeus und Hera“, 1972, S. 92) Die babyl. Ischtar sagt in einem Hymnus: „Ich bin eine herrliche, wilde Kuh.“ Die germ.-eddische Urkuh Auðumla („Saftreiche“), deren Milchströme das erste Leben, den Ur-Riesen(-menschen) Ymir, aufzogen, ist so etwas wie der sinnbildliche Prototyp für die nährenden Erde (Gylf. 6). In diesem Sinne wurde die 1 verstanden: als „Mutter des Lebens".
Wie eng man dann in der Gnosis urgöttlich weiblich-männliche Wirkmächte miteinander verwoben sah - insbesondere als Verursacher der Schöpfung - erweisen eine Fülle derartiger Zeugnisse. Ein Beispiel dafür ist der griech. „Zauberpapyrus III.45“ von 300 n.0 (Louvre Nr. 2391): „Ich rufe dich an, aller Menschen Erzeugerin, die zusammenbrachte die Glieder des Meliouchos und ihn selbst [...] Unterweltliche, Hermes, Hekate, Hermes, Hermhekate.“ Die hier angerufene Hermhekate entspräche einer germ. Wodan-Urda oder Wodan-Hel. Man hatte begriffen, das Uranfängliche kann weder rein männlichen noch rein weiblichen, sondern muss von hermaphroditischem, zweigeschlechtlichem Charakter sein. In dieser mythisch dunklen Gesamtheit steht das 1. Seiende der Runenkunde vor uns.
Die Zahl 2 d / Vater Zwilling - „Weltgeist“
Die 2 ist, in Gegenüberstellung zur Ur- und Einform, das grundsätzlich Andere, der Spannung erzeugende Gegenpol. Damit macht die Dyas („Zweiheit“) Leben erst möglich, indem sie Raum für jedwede Entfaltung schafft. Es spaltet sich die Begriffseinheit der 1, wie die Zahlwortwurzel du, tu zeigt, die den Begriff des Trennens, Scheidens, Entgegensetzens bezeichnet. Beim indogerm. Zahlwort für 2 beginnt eigentlich erst das Zählen und die Zahlenreihe.(„Die Mystik und Magie der Zahlen“, 1977, S. 26) Indisch ahani („der Tag“) ist ein Dual, weil die Nacht mit einbegriffen ist. Mit dem Gegensatz kommen Polarität, Spannung, Rhythmus in die Welt, die Voraussetzungen zur Höherentwicklung und Synthese. Polarität ist das Auseinandertreten einer Kraft in zwei verschiedene zur Wiedervereinigung strebender Wirkungen, die sich gegenseitig bedingen, einander ergänzen und miteinander ein Neues hervorbringen. Die Pythagoreer gaben zehn Gegensätze an, auf welche sich alle Dinge zurückführen lassen: 1.) Grenze und Unendliches, 2.) Ungerades und Gerades, 3.) Einheit und Vielheit, 4.) Rechts und Links, 5.) Männliches und Weibliches, 6.) Ruhendes und Bewegtes, 7.) Gerades und Krummes, 8.) Licht und Finsternis, 9.) Gutes und Böses, 10.) Quadrat und Parallelogramm. Aus der Dyas, dem Gegensatz der Zweiheit entsprang für sie jedes vorhandene Ding. Noch in der Goethe‘ischen Naturbetrachtung galt die Polarität als Grundprinzip der Natur: Auf dem Wechsel von gegensätzlicher Aufspaltung, Spannung, Ergänzung und Wiederzusammenfügung beruht ihr Wirken. Aus diesem Ur-Dual ist jedenfalls der weibliche Anteil nicht wegzudenken. Die runische Philosophie kennt keine Leib- und Frauenfeindlichkeit wie sie sich im Christianismus wahnhaft zusammenbraute, um ein geistiges Milieu hervorzurufen, in dem solche schrecklichen Bluttaten geschehen konnten, wie jene an der heidn. Philosophin und Mathematikerin Hypatia (364-415). Den Pythagoreer-Gemeinschaften gehörten Frauen und Männer an, gleichermaßen geachtet. Nichts anderes dürfen wir aufgrund eindeutiger Zeugnisse von germ. (Runen-)Kultgruppen annehmen. Das zervanistische und christl. Konglomerat, welches das Weibliche, das Sexuelle, den Tod, das Böse und die Sünde in eines zusammenwarf, was überwunden werden müsse, findet in den Runen keinen Widerhall. Die 2. Rune musste wegen der kosmogonischen Folgerichtigkeit dem Ur-Lichtvater zugeordnet werden und trägt damit deutlich männliche Gewichtung, doch die andere 2 im System der 24 Buchstaben, ist die 11-Zahl (QS 2), und diese demonstriert die bedingungslose Gleichberechtigung der Geschlechter im runischen Schema; sie vertritt die weibliche Seite der Ur-Zwei.
Der Runengeist scheint nicht dem Neupythagoreismus und eklektischen Platonismus zu folgen, der den Weltgegensatz des Guten und Bösen aus dem Gegensatz zwischen 1 und 2, der Hyle und Gott, zu erklären versuchte, sondern steht in, nennen wie sie heraklitischen Tradition, wonach die Gottheit selbst beides umfasst: Tag-Nacht, Sommer-Winter, Krieg und Frieden, in einer verborgenen Harmonie. Der Tuisto („Zwiefacher“) galt nach Tacitus (Germ. 2,9) den Germanen als erdgeborener Urgott und Stammvater. Diese Sichtweise leitet sich ab aus urreligiösen, schon vedischen Gedanken, nach denen Gott mit Raum und Zeit, insbesondere mit dem Jahr zusammengeschaut wurde, in dessen „gutem“ Lichtanstieg er ebenso zu erkennen wäre wie im „unguten“ Lichtabstieg zur Finsternis. Die in sich widersprüchliche Predigt von einem guten und allmächtigen Gott, müsste, von diesem Weltverständnis aus gesehen, eben unter dem massiven Eindruck der Macht des „Nichtguten-Bösen“ (dem aus menschlicher Sicht Unangenehmen), als unrealistisch abgelehnt werden. Der christl. Verkündung eines guten, allmächtigen Gottes widersprach David Hume (1711-1776): „Sofern das Böse in der Welt zu Gottes Plan gehört, ist er nicht gut. Läuft es aber seinem Plan entgegen, ist er nicht allmächtig.“ Vernünftig zwar, doch auch voller ethischer Probleme erwies sich die Auffassung vom dualen Gott. Die indogerm. Religionsgeschichte löste das Problem durch die Erklärung zweier Gotteswesenheiten bzw. Gottessöhne, des Hellen und des Dunklen. Im iran. System ist Ahura Mazda (ind. Varuna) der weise Vater der Zwillingsgeister Spontaman (Sponta-Manyu), des heiligen, klugen Geistes, sowie Angraman (Angra-Manyu / Ahriman), des feindlichen Geistes. Von dem einen geht alle gute Schöpfung, vom zweiten die Gegenschöpfung aus. (Hermann Lommel, „Die Religion Zarathustra nach dem Avesta dargestellt“, 1930) So wird verständlich, dass 2 unterschiedliche, vom obersten Prinzip ausgehende polare Kräfte vorhanden sind. Im spätheidn.-eddischen Glaubenssystem steht im Bezirk des Guten-Holden Odin-Baldr und in dem des Argen-Unholden Loki-Hödr. die Zuneigung des Vatergottes besitzt aber der „gute Pol“, der endzeitlich wohl auch triumphierende „lichte Sohn“.
Der „Daus“ und das „As“ beim Spiel sind dasselbe: eine Trumpfkarte. Die Römer nannten zwar eine Maßeinheit As, vielleicht blieb auch der germ. Ase als „Göttertrumpf“ in latenter Erinnerung ? Lautmalend verstärkend den indogerm. Begriff für das vergöttliche Ahnengeschlecht der „Asen / Asuras“. Ein „As“ besitzen, heißt „Glück“ haben, die Gunst des Asen erleben, der, wie Hermes und Merkur, einen besonderen Bezug zu Karten, Würfeln und Orakeln gehabt haben muss. Der Daus („Zweier / Doppelter“) als Kartenblatt trägt keine Zahl, wie auch das „As“ als „das oder der Beste“. Beide geben sich als Glücksgötter/-güter zu erkennen. Stimmte das nicht, so wären sie nicht christl. verteufelt worden: „Aas“, „du Aas“, „Rabenaas“ sind ebenso als Schimpfwörter in Gebrauch, wie „Ei der Daus“ für „Ei, zum Teufel !“ Mit dem Daus könnte der heid. Tagvater-Zwillig (), der „djaus / diu / dag“ gemeint sein.