DIE WELTBAUM-RUNE
Viele Völker sprechen von einem Welten- oder Himmelsbaum, der tief in der Erde wurzelt und dessen Krone bis in den Himmel hinaufreicht. Der Baum wurde zum Symbol des einheitlichen und organisch gewachsenen Weltalls. Als Weltachse verbindet er die drei kosmischen Bereiche: Himmel, Erde, Unterwelt (germ.: Asgard, Mitgard, Hel). Er ist Mittelpunkt der Welt und Stütze des Universums. 1
Auch die spätheidnische, nordgermanische Edda (Völuspa 19, 1) erzählt von der heiligen, immergrünen Esche, dem größten und herrlichsten aller Bäume, dessen Name „Yggdrasill“ ist. Da „Yggr“, von altnord. „ýgr“ = „grimmig“, als Beiname des Gottes Odin belegt ist, deutet man landläufig „Ygg-drasill“ = „0dins-Träger“ in Berücksichtigung des bekannten Mythos, nach dem sich Odin selber speerverwundet in die Zweige der Weltesche hängte, um Runenwissen, also die Ideenmuster der Urzeugung, zu erlangen. Nach tiefergehender, historischer und sprachlicher Untersuchung ist jedoch die Feststellung zu treffen, dass der germanische Weltenbaum sicher als Eibe und nicht als Esche geschaut wurde. Eine „immergrüne Esche“ ist ein Unding - die berühmte heilige, immergrüne Eibe war es, welche am heidnischen Hof zu Uppsala wuchs. Darüber berichtete Adam v. Bremen in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte (Schol. 138 aus den Jahren 1075-81). Und da der germanische Eibenbegriff in manchen alten Formen einen Guttural aufweist (ahd. „ïgo“, schweiz. „ïge“), so konnte aus urgerm. „igwa-“ ein altnord. „yggwa-“ werden. Das zweite Wortglied „-drasill“ aus urgerm. „drasilaz“ hat die Grundbedeutung „Träger“ und weiterhin „Säule“. Hinzu kommt, dass an hochbedeutsamer 12. Position in altgermanischer Buchstabenordnung des ODING ebenfalls die Eibenrune erscheint, so dass mit Sicherheit gesagt werden darf: Die nordgermanische „Weltesche Yggdrasil“ war ursprünglich eine Eibe. Es mag sein, dass der urherkömmliche Welteibenbegriff in später isländisch-eddischer Zeit durch den Odinsbeinamen neu ausgedeutet wurde. „Yggdrasil“ wäre also die „Eibensäule“, was mit der Vorstellung von dem das All tragenden Weltbaum in bestem Einklang steht. 2 In den hochmittelalterlichen Runengedichten wird die Eibe in der Schwundform „yr“ genannt. Von ihr heißt es im norwegischen Runenlied: „Yr ist der wintergrünste Baum.“ Das „Abcdarium Nordmannicum“,eine Erläuterung der jüngeren Runenreihe, spricht sogar unverhohlen den Weltenbaumsinn aus, wenn es sagt: „yr al bihabet“, wörtlich übersetzt: „Eibe enthält alles.“
Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die ur-runische ODING-Reihe den Buchstaben des germ. Himmelsvaters Tiwaz/Tyr (), also den höchsten Erhalter der Weltordnung, an 8. Stelle führt. Nicht nur, dass 8 die erste Kubikzahl ist und deshalb der Raumgottheit von rechts wegen zusteht, darüber hinaus beträgt ihre arithmetische Summe (1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + 7 + 8 =) 36, deren Bedeutung noch erklärt werden soll. Es dürfte aus diesen und anderen Gründen nicht völlig abwegig sein, die eddische Lebensbaum-Eibe „Yggdrasil“ mit der in fränkischen Annalen erwähnten „Irminsul“, dem altsächsischen Allsäulen-Standbild, vorsichtig wägend zusammenzudenken. „Irmin“ = „der Erhabene, Mächtige“ war ein Beiname des Tiwaz; die „lrminsul“ demnach die Tragsäule Gottvaters. Der arge König Karl, dem die Christenkirche den zweifelhaften Ehrentitel „der Große“ beilegte, ließ die Irminsul, das Himmelssäulensinnbild, im Jahre 772 zerstören. Unzählige weitere Freveltaten christlich be(ver)kehrter Enthusiasten folgten. Insbesondere ihr frenetischer Hass gegen das schönste Sinnbild der gesunden, wohlgefügten Naturkraft - den Baum - eröffnet erschreckende tiefenpsychologische Eindrücke in die abgründigen Winkel der judäo-christlichen Wüstenreligion mit ihrer Wüstenseligkeit. Typisch dafür war die Hetze des Bischofs Burchard von Worms, der um das Jahr 1000 in seinem Bußbuch anmerkte: „Man soll ausreißen und verbrennen die den Unholden geweihten Bäume, die das Volk anbetet und in solcher Verehrung hält, dass es keinen Ast abzureißen wagt.“
In der 24-typischen Ur-Runenreihe steht die Rune mit dem Namen „Eihwaz“ = „Eibe“ () nach linksläufiger ODING-Zählweise an 12. und nach rechtsläufiger FUÞARK-Zählweise an 13. Stelle. Da den universitären Runologen die ODING-Erkenntnis bislang verschlossen blieb, gehen diese von nur einer Möglichkeit, nämlich der Zusammengehörigkeit der gematrischen 13 und der Eiben-Rune aus. Insbesondere der fleißige Auszähler Heinz Klingenberg 3 wurde Opfer des Trugschlusses, dass sich die - nicht nur im runischen Fundmaterial - oft erscheinende gematrische Größe 13 ausschließlich auf den Eiben-Weltbaum beziehen würde. Völlig entgangen scheint ihm die sichere Nachweisbarkeit der ambivalenten 13 als ein sehr altes Zeitsymbol. Schon die früheste bekannte Menschendarstellung des ca. 30.000 Jahre alten elfenbeinernen Kalenderblättchens aus der Geißenklösterle-Höhle im schwäbischen Achtal demonstriert die Zeitzahl 13 ebenso wie die Kerbungen auf dem „Mondhorn“ der paläolithischen „Venus von Laussel“ in der französischen Dordogne. Schließlich geht aus manichäischen Schriften hervor, dass die 13 geradezu als Symbol des Zarvan, des Zeitgottes, galt. Nicht anders scheint der Runenschöpfer gedacht zu haben, der die Jahr-/Zeitrune () auf die 13. ODING-Position gab. Sind es doch 13 Mondläufe (Sternmonate) zu je 27 oder 28 Nächten, welche ein Sonnenjahr ergeben. Die mittelalterlichen Volksrätsel über den Jahreslauf kennen ebenso 13 Monate: „Ein Baum hat 13 Äst‘ - und jeglicher Ast hat 4 Nester - und in jeglichem Nest sind 7 Junge.“
Dem Weltenraum aber wurde die 12-Zahl zugeordnet, zumindest seit die Autorität Platos (427-347 v.0) dafür warb. Er vermutete im Dodekaeder (Zwölfflächner) die Gestalt des Weltganzen. 12 Fünfecke (Pentagone) bilden nach dieser Theorie die Begrenzung der Raumtotalen - gebildet durch 12 x 5 = 60 Dreiecke, die sich zum regelmäßigen Körper des Weltraumes aneinanderfügen (siehe Titelabbildung).
Zweifellos wurde der Weltenbaum () als ein Sinnbild für die Weltgesamtheit verstanden, welche sich nach der Begrifflichkeit germanischer Runenlogizität ebenso im Gesamtkörper der 24 Runenzeichen symbolhaft widerspiegelt. Wie könnte die Weltbaum-12 der 24 entsprechen, aus welchem Betrachtungswinkel ist sie ihr gleichgestellt ? Ein Grundbestandteil der alten godischen (urpriesterlichen) Weisheit des runologischen Weltdeutungsvermögens bestand in einer Art Mathematik, welche nicht - wie die heutige - ausschließlich abstrakt, logisch, sondern vorwiegend symbolisch orientiert war. Einer solchen Zahlenkunde musste sich die Erkenntnis von der Gleichartigkeit der 12 und der 24 geradezu aufdrängen. Denn mittels Quersummenziehung schrumpft die 12 zum Kernwert 3, und die 24 verkürzt sich zur 6, welche nichts anderes als die erste Erweiterung bzw. so eine Art Frucht darstellt, deren Kern die 3 ist.
Unmissverständlich fußt ja die gesamte ODING‘sche Metaphysik auf der gematrischen 6, welche man auch als einen Tabernakel begreifen könnte, der in seinem Inneren die göttliche 3 für uneingeweihte, profane Augen verhüllt. Nicht nur die 24 Runen verdichten sich zur Quersumme 6, darüber hinaus besteht das System aus 6 Urlauten und 3 x 6 Mitlauten. Von den Alten ist die 6 als „Vollkommene Zahl“ (griech. „arithmos teleios“) verstanden worden, weil ihr die Teilersummen gleich sind (einschließlich 1, ausschließlich der Zahl selbst). Diese Definition geht mindestens zurück auf den griechischen Mathematiker Euklid, der im 4. Jh. v.0 die „Elemente“, sein berühmtes Lehrbuch der Geometrie; verfasste. 6 hat die Teiler (Divisoren) 1, 2, 3; die Summe von 1 + 2 + 3 und das Produkt von l x 2 x 3 ergeben wieder 6. Solche Zahlen besitzen gewissermaßen einen Inhalt, der ihrem äußeren größten Wert entspricht; bei ihnen deckt sich Äußeres und Inneres. Die Zahl 3 spielt, wie wir erkennen, die esoterisch-versteckte, aber eigentlich zentrale Rolle im Runendenken bzw. im runischen Weltverständnis. Bei Addition aller 24 Runenzahlen erhalten wir die Summe 300, also letztlich wieder 3. Anlass zur Verwunderung kann dieser Umstand unverkennbarer Hochschätzung nicht sein; sind doch Raum und Zeit (und daraus mitresultierend auch Gott) selbst nie anders als durch diese Zahlenmetapher umschrieben worden, so dass noch unser Dichterfürst Friedrich Schiller reimte (Sprüche des Konfuzius):
Dreifach ist der Schritt der Zeit,
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.
Dreifach ist des Raumes Maß.
Rastlos fort ohn Unterlass
Strebt die L ä n g e , fort ins Weite
Endlos gießet sich die B r e i t e ,
Grundlos senkt die T i e f e sich.
Die 12 ist in ihrer Funktion als Welteibenrepräsentant eine vielschichtig stimmige, faszinierende Zahl. Der Mythos lässt den Weltbaum in der Weltmaterie wurzeln, welcher durch die Zahl 4 definiert wurde. Er wächst aus 4-elementiger und 4-endiger Erde (Norden, Osten, Süden, Westen) in jene Himmelswelt des Geistes, die wiederum durch die 3 ihre Versinnbildlichung fand. Aus diesem Gleichnisbild leitet sich die Multiplikation Materie x Geist (4x3 = 12) ab zur mythischen Charakterisierung des Weltbaumes. Seine lichterbesteckte Krone strebt in die Fixsternräume der 12-fachen Kräftestrahlung des Tyr-/Gotteskreises (Zodiakus) hinauf. Welch eine tiefsinnige Betrachtung ergab sich daraus, dass die runische Eiben-12 als Verwebung einer Dreiheit mit einer Vierheit erlebt werden durfte !
Aber nicht nur in den Reigen der 12 Tier-/Tyrkreissternbilder strebte nach antikem Verständnis der heilige Baum hinan, sondern darüber hinaus in den gesamten weiten Himmelszirkel von 360°. Da jede der vermuteten 12 zodiakalen Kräftewirkungen sich wiederum in dreifacher Art kundgab. konnte aus ihnen allein ein Chor von 3x12 = 36 Kräftewirkungen werden. Die -Welteiben-Rune auf 12. Position im runischen Zeitkreis des ODING nimmt beim einfachen Weiterzählen über 24 hinaus auch die 36. Stelle ein - erstaunlich und faszinierend, wie in dieses ODING‘sche Runenzahlen-Bauwerk jeder einzelne gematrische Wert so hineinpasst und hineingehört wie Stein für Stein ins Maßgefüge einer gotischen Kathedrale.
Wenn also der Runenschöpfer - dem altgläubigen Denken gemäß - die 12 mit der 36 zusammenschaute, dann müsste ganz selbstverständlich auch die 6 in diese Gemeinschaft hineingehören - denn alle drei Zahlen sind (nicht nur runische) Gleichnisbilder für die Gesamtheit. Die 6 steht ja mit 36 in allerinnigster Beziehung. Wenn die 6 eine multiplikative Verbindung mit sich selbst eingeht (6x6 = 36), dann muss das Ergebnis als Kraft- oder Wesensentfaltung dieser Zahl verstanden werden. Ein gleiches Grundverständnis lebt noch in heutiger mathematischer Sprache, wenn wir die Produkte aus mehreren gleich großen Faktoren „Potenzen“ (Kräfte) nennen.
Dass die in das altheilige Zahlenwissen Eingeweihten wirklich weltweit kulturüberschneidend so dachten, das zeigt auch dieses aus dem 1. Jh. v.0, aus der Zeit der Ptolemäer stammende Bild des astrologischen Sternenhimmels an der Decke des guterhaltenen ägyptischen Hathor-Tempels (in der Nähe des heutigen Dendera). Es stellt den Himmelskreis dar, welcher von 12 Sternbildern gefüllt und von 36 Bildgestalten umrundet wird. Und der mindestens 1000 Jahre ältere berühmte frühgermanische Sonnenkultwagen aus dem Moor von Trundholm/ Dänemark führt auf den Diskusflächen in hervorgehobenen mittleren Ornamentringen auf beiden Seiten zusammen 36 Sonnenradkreischen. Seine mathematische Gesamtaussage demonstriert 360 als Charakterzahl des Kreises bzw. als Tagesrundzahl der alten Sonnenjahresrechnung. 4 36 lässt sich zur Quersumme 9, der potenzierten 3 (3x3) verkürzen.
Die oben gegebenen Hinweise machen die Annahme wahrscheinlich, dass der Runenschöpfer und sein germanischer Kultkreis ebenso wie die hellenistischen Ägypter das Himmelsrund nicht bloß in der Zahl 12, sondern auch in der Zahl 36 erlebten. Nachweislich wurden mit der 36 aber noch viel weiterreichende Gedanken verknüpft. Der Apollopriester und Autor vielgelesener Bücher, Plutarch (46-125 n.0), berichtet in „Iside et Osiride“ von der Anschauung der Pythagoreer folgendes: „Die sogenannte Tetraktys (Vierheit), die aus 36 besteht, galt bekanntlich als der höchste Eidschwur und war Welt genannt, weil sie entsteht aus der Verbindung der ersten geraden und ungeraden Zahlen.“ Die 4 als Zahl der Weltelemente und mithin als eine Art Basiszahl erschien den zahlenspekulierenden Pythagoreern hochbedeutsam. Sie addierten die ersten vier ungeraden Zahlenwerte (1+3+5+7) mit den ersten vier geraden Ziffern (2+4+6+8) und erhielten 36. Wir Heutigen gehen über solche Betrachtungsweisen einer Zahl rasch hinweg und messen ihr keinerlei Bedeutung mehr zu, ja lächeln wohl auch nachsichtig über derartige Spielereien. Doch die philosophierenden Mathematiker alter Zeiten liebten es, sinnend bei den in einer Zahl enthaltenen Prozessen zu verweilen und sich in dieselben auf meditative Art zu versenken. Ihren - insbesondere den pythagoreischen und runologischen - Zahlensystemen lag aber im tiefsten das uralte Bedürfnis zugrunde, eine auf rationaler Basis aufbauende welterklärende Weltharmonie aufzuzeigen. In dieser bis in die Neuzeit lebendig gebliebenen Tradition stand schließlich noch der deutsche Astronom, Physiker und Mathematiker J. Kepler (1564-1630), der an die Ästhetik des Weltbaues glaubte und nicht von ungefähr sein Hauptwerk „Harmonices mundi“, „Die Harmonien der Welt“, betitelte. Und sein Zeitgenosse G. Galilei war überzeugt: „Das Buch der Natur ist in mathematischen Lettern geschrieben.“
Aus dem Vergleich von 12 und 36 eröffnet sich der Zugang zur Erkenntnis von der Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit beider Zahlen. Wir erfuhren, dass den Platonikern der Kosmos als 12-flächiger Körper erschien und die 3x12, die 36, von den Pythagoräern als „Welt“ bezeichnet wurde. So wird uns auch die runische Verbindung der Welteibe mit den Zahlen 12 und 36 immer verständlicher. Dass die Welt (der Weltbaum) eine Synthese von Gegensätzen, von materiellen und spirituellen, von körperlichen und geistigen Gewichtungen darstellt, das galt den Alten so greifbar wie uns selbst. Und dieses Verständnis führt die 12 geradeso wie die 36 vor Augen, sind doch beide Zahlen Produkt bzw. Summe der Gegensätze des Ungeraden und Geraden, worin die Zahlenmystiker Versinnbildlichungen des Transzendenten und Stofflich-Strukturellen erblickten. Jenes Gegensatzpaar der „ungeraden“ 3 und „geraden“ 4 sollte stellvertretend für jegliche welterhaltende Polarität gelten, gleich zweier Waagschalen, auf denen auch die anderen Offenbarungen der sich ergänzenden Weltgegensätze pendeln, wie: Sonne-Mond, Männlich-Weiblich, Himmelsvater-Erdmutter, Tag-Nacht, Hoch-Tief, Adler-Schlange, letztlich auch Leben-Tod.
Wir beschauen das Buchstabensymbol der Eibenrune () und erkennen, ohne dass viele Worte nötig wären, welch eine für sich selbst sprechende Hieroglyphe sie ist, ganz im Sinne unserer zahlenmythologischen Ergebnisse. Zwei einfache lineare Häkchen an Fuß und Haupt der statischen Himmel und Erde verbindenden Zentralsäule verständlichen die Kräfte des Hinaufstrebenden und jene des Hinabwirkenden. Ja, auch in der Wahl der Eibe zum germanischen Weltenbaum drückt sich die notwendige Einheit von Lebensbaum und Todesbaum ganz realistisch aus. Julius Cäsar meldete, dass in seiner Zeit in den germanischen Wäldern die Eibe sehr zahlreich, damals also auch wohl von hervorragender Größe, vorgekommen sei. Eiben können bekanntlich riesenhafte Ausmaße annehmen und sehr alt werden. Sie wachsen allmählich bis zu 12 und 17 Meter hohen und bis zu 4 Meter dicken Bäumen heran. Zu Braburn in der englischen Grafschaft Kent stand ein Exemplar, dessen Alter auf 3.000 Jahre geschätzt wurde; der Stammumfang betrug 18 Meter. 5 Die an ein gültiges Weltbaumgleichnis zu erhebende Forderung der Doppelwertigkeit (Ambivalenz) erfüllt die Eibe - einmal durch ihre Zweihäusigkeit (es existieren Bäume mit männlichen und weiblichen Blüten) zum anderen wegen ihrer Erscheinung als Pflanze des Lebens und des Todes. Ihr negativer Aspekt war im Altertum allgemein bekannt. Wegen ihres harten und elastischen Holzes wurden Eibenbogen als Waffe sehr geschätzt. Die Ketten vergifteten ihre Lanzen- und Pfeilspitzen mit Eibenextrakt. Das sehr giftige Alkaloid Taxin wirkt lähmend auf Kreislauf und Atmung. Der Herzschlag verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt; mit Herzstillstand und Atemlähmung tritt der Tod ein. Auch als Abtreibemittel bei ungewollter Schwangerschaft fanden Eibenabkochungen Verwendung. Andererseits wurden in der Homöopathie aus frischen Eibennadeln stark verdünnte Zubereitungen hergestellt, die sich bei Leberleiden, Herzkrankheiten, Gicht, Rheuma und Erkrankungen der Harnblase bewährten. Auch dies dürfte im Altertum nicht unbekannt geblieben sein (s. Abb. 2a = Eibenbaum).
In der ideal-jahreszeitlichen Abfolge der ODING‘schen Runenordnung nimmt das Welteibenzeichen die Vollmondphase vor der Sommersonnenwende ein, also zum Ende des heutigen Monats Mai. Demnach besteht etwa Deckungsgleichheit mit noch heutiger brauchtumsmäßiger Sitte der Maibaum- bzw. Jahresbaumerrichtung, welche in den verschiedenen deutschen Gauen schwankend vom 1. Mai bis zur Sonnenwende erfolgen kann. Bei frisch geschlagenen Bäumen (Tannen, Fichten) bleibt der Wipfelboschen erhalten, oder es wird dem Maibaum ein Gipfelschmuck aus frischen Ästen angeheftet. In altgermanischer, also frührunischer Zeit müssen dafür singrüne Eibenzweige verwendet worden sein.
Die älteste bisher bekannt gewordene schriftliche Nachricht über den Maibaum stammt aus dem Jahre 1225, als in Aachen ein missgünstiger „Leutepriester“ unter den Protesten der Bevölkerung die bekränzte Baumstange umhieb. Dem Fanatiker zum Schimpf ließ jedoch unmittelbar darauf der Jurist Wilhelm einen noch höheren Maibaum aufrichten. Trotz solcher erst hochmittelalterlichen Kunde dürfen wir sicher sein, dass dieser altheilige Brauch selbst weit über die Entstehungszeit der Runen hinaus in graue Vorzeit zurückreicht. In Gestalt schwedischer Felsritzbilder (Lilla Gerum, Tanum / Bohuslän) ist er ebenso nachweisbar wie als realer Fund in den Mooren Europas von den Alpen bis England / lrland und Skandinavien - seit der frühen Bronzezeit. Teils sind es durch Schmuck verschönerte Zweige, mit Blumen geschmückte Stäbe bis zu 2 m Länge sowie große, schlanke, entrindete, aber mit Spitzenschmuck versehene Bäume von über 15 m Höhe, die am Ende der Baumfeiern als Opfergaben im Moor niedergelegt wurden. 6 Die gedankliche Verknüpfung der Weltsäulenidee mit dem Gleichnis eines Erde und Himmel verbindenden - oder gar ausfüllenden - Weltbaumes kann nur auf der Beobachtung in nördlichen Breiten beruhen, dass sich die Himmelsglocke um den Nordstern herum über einer Weltachse zu drehen scheint - ein nordisch inspirierter Mythos also !
Wie eng die altgermanische Lebensbaum-Eibe mit der höchsten Himmelsgottheit verbunden war, geht noch aus den Resten der altnord. Ullr-Mythe hervor. Der Gottesname „Ullr“ entspricht dem gotischen Wort „wulðus“ = „Herrlichkeit“. Dem eddischen Grimnismál (5) zufolge, steht die Halle des Ullr in „Ydalir“, im „Eibental“. Daraus ist seine Beziehung zum immergrünen Weltenbaum und dessen Fruchtbarkeitaspekten ablesbar. Ein anderes der Ullr-Attribute ist der Altar-Ring, ein Sinnbild auch der raumzeitlichen Unendlichkeit. Wenn Ullr nicht eine Erscheinungsform oder nur ein Kultname des höchsten Himmelsherrschers (Tiwaz/Tiu/Tyr) selbst war, dann muss er neben diesem doch völlig gleichwertig gestanden haben. Ein bedeutender Gelehrter meinte: „Im skandinavischen Norden wäre dann der sternenbesäte Nachthimmel im Winter der großartige Ausdruck seiner göttlichen Majestät.“
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Abb. 2 a + b
Eine bronzezeitliche Felsgravur von Lövasen / Schweden (s. Abb. 2b) belegt die kultische Hochschätzung der Eibe schon für die urgeschichtliche Epoche. Keine einzige ordentliche Laubbaumdarstellung lässt sich in der Felsbilderwelt des Nordens auffinden, wohl aber dieses symbolträchtige Nadelbaumbild (Länge: 67,5 cm) mit der Wurzeltriade und der Dreispross-Spitze. Wozu die Fichte nicht neigt, ist typisch für die Eibe: die tief unten am Hauptstamm entspringenden Tochterstämmchen.
Es war die ODING‘sche Runenerkenntnislehre, die uns ein Fenster aufstieß und einen Blick gewährte in die Weiten urgermanischer Verständniswelten. Wir hörten von Zahlen- und Ideenbildern, mit denen die alten Weisen ihre naturphilosophischen und naturtheosophischen Welterklärungssysteme stützten. Wir Heutigen, naturwissenschaftlich soviel Klügeren können aber die Grundaussage des Pythagoras - gerade aus unserer streng rationalen Sichtweise - uneingeschränkt gelten lassen: „Alles ist Zahl.“ Und auch die These des Runenschöpfers, die er kundgab, indem er für Weltenbaum und Runengesamtheit die Kernsumme 3 bestimmte, gewinnt aus der Erkenntnislage moderner Physik zunehmend Verständnis: „Alles ist Geist/Energie.“
Quellenangaben
1 - Sibylle Selbmann: Der Baum, Symbol und Schicksal des Menschen, Karlsruhe 1984
2 - Franz Rolf Schröder, Ingunar Freyr, Unters. z. germ. u. vergleich. Rel.-gesch. 1941, S. l0ff
3 - Heinz Klingenberg, Runenschrift - Schriftdenken, Heidelberg 1973
4 - Gerhard Heß, Zahlenmytholog. Deutungen des bronzezeitl. Kultwagens von Trundholm, in: DGG 3/94
5 - Eduard Mielck, Die Riesen der Pflanzenwelt, 1863, S. 106ff
6 - Alfred Dieck, Dendrophori, Dendrobatai u. geschmückte Bäume i. Kult u. Brauch seit d. frühen Bronzezeit bis heute, in: Fundberichte aus Hessen, 19./20. Jg. 1979/80, S. 849-929
7 - Jan de Vries, Altgerm. Religionsgeschichte II, Berlin 1957, 5. 153ff