Rennwagen-Mosaike des 2./3. Jhs. - Villa Romana, Sizilien
Die Raido-Rune
Das Runenwort raido / raidu, aind. und airan. ratha, lat. raeda, kelt. reda, ahd. reita, bedeutet Wagen mit der erweiterten Bedeutung von Fahren / Reiten / Reise. Der kelt. Namen für Sonnenrad bzw. -wagen war: „Reides grian“. Das keltische Wort für Furt war „ritu-“., Unbestreitbar ist also, dass die R-Rune einen deutlichen Bezug zur Fortbewegung und zum Fortbewegungshilfsmittel - Wagen / Pferd bzw. dem Fahren / Reiten - hat.
Auch das Runenbildkürzel könnte mit einfachsten Linienzügen dem senkrecht gekippten leichten Zweispänner, der lat. Biga, mit langer Deichsel, Wagenkasten und hochgezogener Barre, schon ähneln. Die angelsächsische Runenstrophe lautet: „Ritt [rað] scheint leicht jedem Manne während er zu Hause sitzt; und ist gar mutvoll für den, der auf wackerem Ross die langen Wege durchreitet.“ In der Runenliste des Hrabanus-Maurus finden sich die Runenvermerke: rehit (ahd.: „Ritt“) und equiatatio (lat.: „Reiter“). Die altisländische Runenreimerei steuert zum Verständnis bei: „Reið ist behagliches Sitzen und hurtige Reise und Anstrengung der Pferde.“ Darunter steht: iter (lat.: „Weg / Gang / Reise“) und ræsir (altn.: „werter Mann / Fürst“); da drängt sich der anlautgleiche righ (gäl.: „König“) in Erinnerung. Das norw. Gedicht meint in verschiedenen Versionen: „Ræið [Ridr], sagt man, sei den Rossen das Schlimmste; Reginn [Raghn] schmiedete das beste Schwert.“
Seltsam unpassend erscheint auf den ersten Blick die Erwähnung von Reginn‘s Schwert. Es könnte sich dabei um ein Relikt aus dem vorausgegangenen, rein heidn. Runenreim handeln, das aus Traditionsgründen belassen wurde, ohne altgläubigen Kontext aber für Uneingeweihte beabsichtigterweise unverständlich bleiben muss. Reginn ist in der germ. Heldensage ein kunstfertiger, boshafter Zwerg der das Schwert Gramr („Grimm / Feind“) schmiedet. Meinte der Runenreimurtext aber Regin („Götter“), dann handelte es sich um eine altn. Bezeichnung für „die (Be-)Ratenden“, insbesondere für die zum Rat zusammenkommenden Götter, z.B.: „Þá gengo regin öll á röcstóla“: „Da gingen die Götter alle zum Richterstuhl [um Rat zu halten]“ (Vsp. 6). Der Begriff Regindómr („Götterurteil / -gericht“: Vsp. 65) könnte „die Herrschaft der Götter“ meinen oder auch ein anderer Ausdruck für Ragnarökr („Göttergeschick“) sein.
Wer ist dieser göttlich-fürstliche Ræsir, der Wäger ?
Aus kalenderrunischer Sicht würde sich das Schwert, wie wir noch sehen werden, sehr stimmig einfügen. Es ist Symbol des Sterbens und nur ein Totengott, ein richtender Gott kann in solcher Herbstphase Patron dieser Rune sein.
Nach einem Rad-Gott muss nicht lange gesucht werden, es ist der kelt. Taran / Taranis, ein Gott der Oberhoheit ähnlich dem röm. Jupiter und Mars. Zu seiner Funktion gehörten: die Himmelsherrschaft, der Krieg („Schwert“), das Jenseitsleben und der Ahnenkult. Cäsar schrieb: „Alle Gallier rühmen sich, von Vater Dis abzustammen, und sagen, das werde von den Druiden überliefert.” (De bello Gallico VI,18.1). Deutlich handelt es sich dabei um den höchsten gallischen Gott. Etlichen Keltengruppen war das Taranis, anderen galt Ollathi („Allvater“) Dagda ( d-Rune; Zahl 2) als der Dis Pater („Unterweltsgott“). Als röm. Dis-Pater galt der Zeus-Bruder und Unterweltsherrscher Hades bzw. Pluto (griech.: „Fülle / Reichtum“). Seinen Wagen zieht ein Gespann von vier Pferden. Seinem Wirken wurden die nächtlich am Himmel zuckenden Blitze zugeschrieben und er galt als Begründer der Riten beim Begräbnis. Seine Gattin ist die Erdmutter- bzw. Demetertochter Persephone. Geopfert wurden dem Pluto Stiere und Ziegen. Er ist Patron der Getreidevorräte und Herr der in der Erde ruhenden Schätze sowie der in ihrem Schoß keimenden Pflanzen. Zum Herrscher der Unterwelt mit den Toten sowie der unterirdischen Reichtümer wurde er, nachdem Kronos von Zeus gestürzt worden war. Pluto gebietet über die drei Richter Minos, Aeakus und Rhadamanthys, die urteilten, ob ein Verstorbener in das freudenreiche Elysion oder in den finsteren Tartaros zu gehen hat. Nach anderer Version herrscht der weise und gerechte König Rhadamanthys (röm. Radamanthus) nach seinem Tode mit Kronos im Elysion, dem Aufenthaltsort der Seeligen, nach Homer ein gesegnetes Gefilde, wohin die großen Helden versetzt werden (eddisch: die Walhalla). Rhadamanthys galt als Sohn des Zeus und Bruder des Minos. Wolfram von Eschenbach griff mit seinem „Parzival“ einen kelt. Sagenstoff auf, er sagte selbst: „Aus der Provence in deutsches Land, ward uns die rechte Mär‘ entsandt“ (827). Er erwähnte Erinnerungen an kelt.-antike Gottheiten, wenn er dichtete: „Belet dazu und Radamant / Und andre, die ich geschrieben fand“. Angesichts der Verwobenheit griech.-röm. und kelt. Glaubenszüge, durch Aufnahme wechselseitiger Anleihen, dürfen wir die hinter der r-Rune stehende Gottheit als den herbstlichen Taranis-Tiu, den Zeus Chthonios - mit Vegetationsaspekten des Pluto und juristischen des Radamanthys - begreifen.
Die Fragen ist berechtigt, wie der negative Aspekt des Wagens und der Wagen-Rune verständlich zu machen wäre. Man muss darüber etwas länger im Stillen nachdenken, bevor man die nötige Einsicht gewinnt. Man denkt zunächst wahrscheinlich beim Wagen und dem Fahren an Urlaub und an fröhliche Ausflugstouren. WAGEN und FAHRT bedeutet aber immer Gefährdung. Um ein modernes Beispiel zu gebrauchen: Erinnern wir uns doch einmal daran, wie viele tausend Menschen pro Jahr im heutigen Straßenverkehr umkommen. Im kleineren Maßstab war das zu allen Zeiten so. FAHRT heißt GEFAHR, Anstrengung und Wagnis; dies alles ist lebensnotwendige Bewegung und Stärkung und auch ein prächtiges Abenteuer, doch immer bleibt es ein herausforderndes Spiel mit dem Tod. Die Sprache zeigt diese Zusammenhänge auf: Der Gefährte ist der Kamerad, der Mitfahrende. Die Fahrt (ahd. vart, niederl. vaart, schwed. färd ) ist eng verbunden mit der Gefahr (ahd. fara, mhd. gevare), ein Begriff der vom gefährlichen feindlichen Nachstellen kommt, als auch von der Bewegung die Übles beabsichtigt.
Die psychologischen Gründe dafür, dass das Fahren, die Rennwagenfahrten für unsere Vorfahren zu den Leichenspielen (zum Totenkult) gehörten, sind vielfältiger Natur. Die Wagen-Rune ist das erste Zeichen nach der Herbstgleiche. Mit diesem Wendepunkt beginnt die rasante Fahrt des Jahres in die Dunkelheitsphase, die Tage werden schnell kürzer und damit nimmt die Macht der Totengeister und Dämonen zu. Welche Gottheiten dieser Zeitspanne und diesem Runenstandort zugerechnet wurden, kann man sich unschwer denken. Das sind keine lichten, bunten Vegetationsmächte mehr, sondern eher düstere, ambivalente, oft strafende oder sogar böswillige Kraftwesen; - eben den Naturgegebenheiten entsprechende. In den Spätherbststürmen, die die Bäume kahlfegen und Regenwolken herantreiben, toben sie mit. Der Wintertod beginnt schon langsam seine Glieder zu recken und zu dehnen. Im Nordland beginnt die arge Zeit. Die Geisterfahrten - die bei allen germanischen Völkern bekannt sind - gehen los. Im Tarot trägt die 8. Karte den Namen „Le Chariot", also „der Wagen". Als Bedeutung geben Tarot-Kenner z.B. an: „Die Karte bedeutet schlechte Nachrichten, Feindschaft, Schicksalsschläge, Schwierigkeiten. Sie kann auch stehen für eine Ortsveränderung, sei es eine Reise, sei es eine Flucht...."